Schöne Oper – selten gehört
Simon Mago
Arrigo Boito (1842-1918)
Nerone
Nero
Tragödie in vier Akten
Libretto vom Komponisten
italienisch gesungen
Uraufführung (posthum) am 1. Mai 1924 am Teatro alla Scala, Mailand
Dauer: etwa 125 Min.
Personen
Nerone (Tenor)
Simon Mago (Bariton)
Fanuél (Bariton)
Asteria (Sopran)
Rubbria (Mezzosopran)
Tigellinus (Bass)
Gobrias (Tenor)
Dositéo (Tenor)
Straßenhändler – Mädchen aus Gades (Càdiz) – Ausrufer – Augustianer (bezahlte Beifallsklatscher) – Freigelassene – Anhänger der „Grünen“ und „Blauen“ (Zirkusparteien beim Wagenrennen) – Volk – Sklaven – Plebejer – Senatoren – Eine Gruppe von Dionysischen Künstlern – Drei Decurios der germanischen Garde – Aeneatoren (militärische Horn- oder Tubenbläser) – Priester des Tempels von Simon Mago – Matronen – Flottenangehörige – Prätorianer – Christen – Wagenlenker der „Grünen“ und der „Blauen“
Die Handlung spielt im Alten Rom
HANDLUNG
Erster Akt – Die Via Appia
Der Schauplatz des ersten Bildes ist ein freies Feld neben der Via Appia Antica, welche aus der Stadt Rom in südlicher Richtung herausführt, ungefähr beim sechsten Meilenstein, und in der Nähe jener Katakomben, wo sich die Gemeinde der Christen zu versammeln und ihre Toten zu begraben pflegt. Da ein römisches Gesetz besagt, dass keine Leichen in bewohnten Gebieten bestattet werden dürfen, ist auch die Via Appia gesäumt von bescheidenen Gräbern und monumentalen Grabdenkmälern. Man kann die träge Hitze der Sommernacht aus der Musik heraushören. Die Regieanweisung in Boitos Libretto lautet: „Die Nacht ist voller Gesänge, die aus der Ferne von der weiten Ebene herkommen; Fragmente von Liedern, die der Wind herweht und fortträgt.“ Von weit her erklingen die Verse: „Gesang der Liebe, flieg mit dem Wind, kehre mit dem Wind zurück.“ Zugleich verkündet der Wächter des Aquädukts die dritte Nachtwache. [Bei den Römern war die Nachtzeit zwischen Sonnenuntergang und -aufgang in vier Vigilien zu je drei Stunden eingeteilt.] Auf dem Feld stehen Tigellinus und Simon der Magier (Simon Mago). Der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Tigellinus war durch eine Erbschaft zu Wohlstand gekommen, auf seinen erworbenen Latifundien in Kalabrien und Apulien züchtet er Pferde, wodurch er die Gunst Neros gewann. Im Jahr 62 n. Chr. war Tigellinus zum Präfekten der Prätorianergarde aufgestiegen. Simon Mago hingegen ist ein esoterischer Scharlatan, der sich das Bedürfnis der Menschen nach übernatürlichen Dingen und Magie zunutze macht, und gut davon zu leben versteht. Daneben scheint er auch als Kurpfuscher in den rasch sich ausbreitenden christlichen Mysterien aufgetreten zu sein – schließlich muss man auch als Esoteriker mit der Zeit gehen – und soll versucht haben, von den Aposteln Petrus und Johannes die Gaben des Heiligen Geistes gegen Bezahlung in Bargeld zu erhalten, was ihm später den Ruf eines ersten Irrlehrers (Häretiker) der Kirche einbrachte. Beide stehen nun da und scheinen auf jemanden zu warten. Ein Wanderer mit einer Satteltasche auf dem Rücken und einem Wanderstab in der Hand geht langsam vorbei. „Ist er es?“ fragt Simon Mago, doch Tigellinus antwortet mit einem kurzem „Nein“. – „Vielleicht fürchtet er sich vor den Rufen?“ meint Simon Mago, und wie zur Bestätigung schallt es von ferne her: „Nerone-Orestes. Der Muttermörder!“ Zuvor haben die beiden noch eine tiefe Grube im Erdreich ausgehoben, und Tigellinus fragt angelegentlich, ob die Aushebung auch tief genug wäre, was Simon Mago bestätigt. Plötzlich hört man einen lauten Hilfeschrei, und danach: „Die Erinnyen [Rachegöttinen] – dort!“ Mit diesen Worten stolpert der römische Kaiser Nero auf die Bühne. Die Angst sitzt ihm in allen Gliedern. Tigellinus versucht ihn zu beruhigen, doch Nero besteht darauf, eine wilde Erscheinung gesehen zu haben, umgürtet mit einer Schlange und eine Fackel schwingend. Sein Gefolge hat Nero in Bovillae gelassen, einer Reisestation an der Via Appia, ungefähr 18 Kilometer südöstlich von Rom entfernt. In der Hand trägt Nero eine Urne, welche die Asche seiner Mutter enthält, getötet auf Neros Befehl. [Neros Mutter Agrippina die Jüngere hatte allerdings ihren Gatten, den Kaiser Claudius, vergiften lassen, um ihren einzigen Sohn Nero gegen dessen Willen – er wollte Schauspieler und Sänger werden – zum römischen Kaiser auszurufen. Eine Verantwortung, der er nicht gewachsen war. Als Nero zuletzt noch unter den unheilvollen Einfluß der Lebedame Poppaea geriet, scheint er von dieser angestiftet nicht bloß seine Mutter, sondern auch seine Gattin Octavia ermordet zu haben. Bei all dem war der gewissenlose Prätorianer-Präfekt Tigellinus als Helfershelfer aufgetreten.] Nun wissen wir auch, wozu die zuvor ausgehobene Grube dienen soll, nämlich um jene Urne zu begraben, mit Hilfe der Beschwörungsformeln des Simon Mago, damit die arme Seele ihre Ruhe findet. Noch immer hört man die entrückten Gesänge der Nachtschwärmer herüberschallen, und abermals, etwas näher, den fatalen Ruf der Anklage: „Nerone-Orestes. Der Muttermörder.“ Tigellinus beschwichtigt: „Der Gesang eines Betrunkenen!“ Er will Nero die Urne aus der Hand nehmen. Dieser hat sich in der Zwischenzeit wieder gefasst, und besteht darauf, die Urne persönlich zu vergraben. Hastig blickt er sich nach Simon Mago um, und fragt, wo dieser bleibt. Simon Mago, der sich unterdessen die Füße vertreten hat, kehrt mit der zynischen Bemerkung zurück: „Wie die flehenden Hände Agrippinas.“ Nero ist schon wieder entsetzt: „Ah! Du, errette mich! Reinige meinen Muttermord! Ich lebe ein schreckliches Leben, auf der Flucht im Gebirge Kampaniens.“ Überall will er die Eumeniden oder Erinnyen sehen, und das Gespenst seiner Mutter. – „Das kommt von den unbestatteten Körpern, welche Trugbilder aussenden“ klärt ihn Simon Mago auf, der es ja wissen muß. Nun steigt Nero in die ausgehobene Grube hinunter und deponiert dort die Urne mit zitternden Händen. Dann beginnt er mit einer dramatischen Deklamation, die er offenbar vorbereitet hat. Während Nero deklamiert, gewinnt er immer mehr an Sicherheit und steigert sich in die Rolle des Künstlers hinein. Wie ein Schauspieler der klassischen griechischen Tragödie rezitiert er die Worte: „Ich bin der letzte Lebende einer tragischen Familie. Das Schicksal vereinigt und verbraucht sie alle in mir. Die alte Gottheit dringt in mich ein, meine Handlungen sind Handlungen des Schicksals.“ Trotzig richtet er sich auf, indem er lautstark erklärt: „Und gut gesprochen war jener Ruf: Ich bin Orestes!“ Simon Mago tritt hinzu, er meint: „Und dein Tauris ...“ – „Ist Rom!“ antwortet Nero hellauf begeistert. Dabei spielt Simon Mago auf den Mythos des Muttermörders Orestes an, welchen das Delphische Orakel nach Tauris verwiesen hatte, um seine Schwester Iphigenie heimzuführen und damit den ihn belastenden Fluch zu lösen. In diesem Augenblick zieht eine Gruppe von Gladiatoren vorbei, deren Anführer, der Lanist, eine lange Geißel als Zeichen seines Ranges schwingt. Tigellinus, der Wache gestanden hat, eilt herbei und mahnt zur Ruhe: „Es kommen Leute!“ Simon Mago hilft dem etwas behäbigen Nero, rasch wieder aus der Grube zu steigen. Danach ist es die Aufgabe des Magiers, das Werk zu vollenden und die Grube in Windeseile wieder zuzuschütten. Nero weist ihn an, den Spaten nach getaner Arbeit zu verstecken. Danach wirft Simon Mago dem Kaiser das Fell eines Tieres über den Kopf, worauf Nero es wieder mit der Angst zu tun bekommt und um Hilfe ruft. Doch Simon Mago weist ihn zurecht: „Kniee nieder und sprich Amen.“ (Eine Formel, die sich der windige Magier natürlich von den Christen abgeschaut hat.) Nero gehorcht ihm. Dann reicht ihm Simon Mago einen Sühnekelch. „Ist das Blut?“ fragt Nero mit sichtlichem Ekel im Gesicht. Der Kelch ist tatsächlich mit Blut gefüllt, Nero soll es auf die Grabstätte gießen. Er zögert aber, weil er sich fürchtet, und Simon Mago muß ihm Mut zusprechen, bevor er sich entschließt. Just in diesem Moment wird jedoch eine wild anzusehende weibliche Gestalt sichtbar, um den Hals eine lebende Schlange gewunden, und eine Fackel schwingend gleicht sie einer Rachegöttin. Mit einem markerschütternden Aufschrei springt der in Panik geratende Nero zur Seite. Er ist jetzt endgültig ein Nervenbündel und ein willenloses Opfer seiner Ängste. Tigellinus, der einen klaren Kopf behalten hat, fragt sich ebenfalls, woher diese seltsame Gestalt gekommen ist. Neros Aufschrei hat auch zwei nächtliche Wanderer angelockt, welche Tigellinus erkennen und ansprechen. Tigellinus packt Nero – der noch immer das Fell auf dem Kopf trägt, welches zu Boden fällt – und zieht ihn aus dem Tumult heraus. Die „Erinnye“ ruft Nero mit einem heftigen Schrei beim Namen. Nero und Tigellinus flüchten kurzerhand und verschwinden im Dunkel der Nacht. Simon Mago hat sich unterdessen von hinten angeschlichen, und indem er die Gestalt mit festem Griff packt, spricht er zu ihr mit ruhiger Stimme: „Du bist ertappt. – Sei colta.“ Mit unbewegtem Tonfall wie in Trance gibt diese zur Antwort: „Wer den Tod liebt, darf mich berühren.“ Simon Mago ist verwundert: „Medusa, Hekate, Sphinx, Eumenide oder Dämonin, wer bist Du? Warum verfolgst Du Nero?“ Es stellt sich nun heraus, daß es sich bei dieser ominösen Priesterin des Schreckens um Asteria handelt, welche in den Kaiser Nero unsterblich verliebt ist: „Er ist mein Gott und ich bete ihn an!“ Für Asteria ist Nero ein bewundernswertes Idol, ein „grausamer Engel, der die Nebel der Gespenster bevölkert, und über den infamen und betrunkenen Plebejern seine subtile Peitsche schwingt.“ Schon längere Zeit ist Asteria dem Kaiser überall hin gefolgt, und sie war es auch, die Nero gesehen hatte, als er bereits zu Beginn des Aktes glaubte, von den Erinnyen verfolgt zu werden. Noch hellhöriger wird Simon Mago jedoch, als Asteria ihm ihr Versteck zeigt: eine geräumige Krypta unter einem der Gräber, von dem aus ein geheimer Gang zu den Katakomben der Christen führt. Simon Mago weist die von Liebe sich verzehrende Asteria an, sich am nächsten Tag bei Sonnenuntergang in seinem Tempel einzufinden, und verspricht ihr, sie werde Nero ganz von der Nähe sehen können. Er warnt sie aber noch vor den „mörderischen Zärtlichkeiten“ des Kaisers. – „Eine Liebe, die nicht tötet, ist keine Liebe“ gibt Asteria unerschrocken zurück. Inzwischen ist die blonde Rubria aufgetreten, eine getaufte Christin, die vor eines der Gräber tritt und ein Vaterunser betet. Asteria scheint anfangs ergriffen von den „sanften Gebet“ des jungen Mädchens. Rubria teilt mit ihr die Blumen, mit denen sie das Grab schmückt, Asteria nimmt die Blumen, wendet sich jedoch ab: „Nein ... Den Zauber Deines Gebetes muß ich fliehen. Ich suche einen anderen Gott.“ Kaum ist Asteria in Richtung des römischen Vorortes Albano Laziale verschwunden, taucht Fanuèl auf. Dieser, ein junges Mitglied der christlichen Gemeinde, steht im Begriffe, mit einer Gruppe von Pilgern nach fremden Ländern zu reisen, um das Wort Gottes zu predigen. Er will Abschied von Rubria nehmen, die mit Tränen in den Augen fragt, ob sie ihn denn nicht wieder sehen wird. Es ist offensichtlich, daß Rubria in den jungen Mann heftig verliebt ist, wenngleich sie sich dieses aus Gründen übergroßer Frömmigkeit nicht eingestehen will, und sogar von einer Sünde spricht, die sie auf dem Herzen trägt. Fanuèl antwortet ihr unerschütterlich: „Ich folge meinem Stern nach unbekannten Häfen.“ Anschließend fordert er sie dazu auf, ihre Sünde zu beichten, wozu sie aber nicht mehr kommt, denn Fanuèl hat in dem Eingang zur Krypta den Erzfeind der Christengemeinde, Simon Mago, entdeckt. Fanuèl schickt Rubria mit dem Auftrag fort, die restliche Gemeinde vor drohenden Gefahren zu warnen. Rubria verschleiert daraufhin ihr Gesicht und eilt davon. In einiger Entfernung sind nun militärische Trompetensignale zu hören, Simon Mago tritt aus dem Schatten auf das freie Feld, um von einem Hügel aus die Gegend zu beobachten, woher die Signale kommen. Fanuèl ruft ihn beim Namen, während die Trompetensignale unverändert weiter ertönen. „Komm her, sieh Dir das an!“ gibt Simon Mago zurück und beginnt Fanuèl einen zynischen Vortrag zu halten: „Eine große lärmende Wolke nähert sich. Sie lassen triumphierende Trompeten ertönen. Es ist der Muttermörder, der mit seinem Gefolge von Gauklern, Schauspielern und Eumeniden daherkommt, um die schuldige Welt zu überfallen. Denke Dir doch: Die Königreiche, die Völker, die Glorie, die Kronen, die Szepter, die Siege, alle die Strahlen Roms und Neros sind nichts als sterbende und glanzlose Lichter neben meinem Traum und neben Dir: Auf den sieben Hügeln ein Tempel (oh Vision!), ein ewiger Tempel, welcher sich den Erdball unterwirft. Und Du auf dem Altar: Prophet und König. All der Weihrauch, den der Äther aufsaugt, ein unermesslicher Nebel, zu Deinen Füßen. ...“ Im Endeffekt läuft alles darauf hinaus, dass Simon Mago von Fanuèl erreichen möchte, ihm seinen „Zauber“ zu verkaufen, um Fanuèl im Gegenzug zur Herrschaft über Rom zu verhelfen. (Offenbar ist Simon Mago der Auffassung, dass die Christen über eine besondere Zauberkraft verfügen müssen, weil sie im Laufe der Zeit immer mehr Anhänger um sich versammeln.) Fanuèl ist über das Ansinnen Simon Magos dementsprechend entsetzt, und belegt ihn mit einem Bannspruch, ehe er sich entfernt. Wutentbrannt ruft Simon Mago ihm nach: „Zwischen uns ist Krieg auf Leben und Tod!“ Danach läuft auch er in entgegengesetzter Richtung davon.
Gleich darauf erscheinen Tigellinus und Nero an dem Ort. Sie kommen auf einem Feldweg heran und wollen noch einmal nach dem Rechten sehen. Neros Toga ist verrutscht, darunter wird eine kostbare purpurne Tunika, geschmückt mit goldenen Zweigen, sichtbar. „Ist uns niemand gefolgt?“ fragt Nero, indem er sich furchtsam nach jenem Grabmal umblickt, welches Asteria zuvor als Versteck gedient hat, und worin die Urne mitsamt der Asche seiner Mutter vergraben ist. – „Es steht zwischen Rom und mir“ murmelt Nero finster, während er das Grab die ganze Zeit über nicht aus den Augen läßt. Tigellinus hingegen drängt zum Aufbruch: „Gehen wir, worauf wartest Du noch?“ – „Ob sich das Grab nicht öffnet!“ schreit Nero beinahe außer sich vor Entsetzen. Da nimmt Tigellinus seinen Herrn bei der Hand, in der Absicht, ihn wegzuführen. Aufgeregt reißt sich Nero von Tigellinus los und ruft: „Ich möchte fliehen!“ – „Fliehen? Wohin?“ fragt Tigellinus. Die Antwort Neros fällt wenig beruhigend für Tigellinus aus: „Ich weiß nicht. Wohin der Sänger auch wandert, er findet eine Heimat. Es gibt nur den Ruhm und die Kunst.“ Ein geflohener Nero, der irgendwo in den ehemaligen griechischen Kolonien als abgedankter Kaiser ein weltfremdes Sänger- und Künstlerleben führt, kann Tigellinus am wenigsten nützen. Damit würde auch seine eigene glanzvolle Karriere ein jähes Ende finden, und er sucht Nero bei der Stange zu halten. Dieser habe doch nichts zu befürchten. Der Senat habe ihm doch seine Geschichte geglaubt, daß Agrippina ihn zuerst töten lassen wollte, und Nero nur aus Notwehr gehandelt habe. Nero bleibt dennoch skeptisch. Plötzlich beginnt Tigellinus auf die Rufe und das Getöse aufmerksam zu werden, welches immer näher kommend von der Via Appia her zu hören ist. „Die ganze Stadt läuft zusammen, um Dich willkommen zu heißen“ versucht Tigellinus den Kaiser zu ermutigen, doch Nero wird daraufhin überdies noch von Zorn gepackt und möchte aufgebracht wissen, wer das Gerücht von seiner Rückkehr nach Rom ausgestreut haben könnte. „Ich“ antwortet Tigellinus schlicht, was Nero noch viel mehr auf die Palme bringt. „Ich tat es, um Dich zu retten“ erklärt der Prätorianer-Präfekt und möchte Nero die frenetisch jubelnden Menschenmassen vor Augen führen. Neros Absicht war es hingegen gewesen, völlig unerkannt nach Rom zurückzukehren. Vor dem Tumult der lärmenden und frohlockenden Volksmenge weiß Nero nicht, wohin er fliehen oder sich verstecken kann. Alle laufen wild durcheinander, Armenier ebenso wie Griechen, Ägypter, Äthiopier und sogar Inder. Dazwischen gallische und germanische Soldaten, Prätorianer und die römische Plebs. Erst nach längerem Zögern und von den ersten Strahlen der Morgensonne geblendet, beschließt Nero dennoch, sich dem Volk zu stellen und seine Verse zu singen – „Fortuna in frente“ – dem ungewissen Schicksal die Stirne bietend. Die Szene endet vom hellen Licht des angebrochenen Tages bestrahlt.
Zweiter Akt – Der Tempel des Simon Mago
Wie der Titel des zweiten Aktes besagt, befindet man sich hier im unterirdischen privaten Tempel von Simon dem Magier. Der Raum ist durch einen Vorhang in zwei Abteilungen abgetrennt, wobei der eine Teil den Priestern und Eingeweihten vorbehalten ist, der andere Teil den Gläubigen oder uneingeweihten Anhängern des Simon Mago. Diese letzteren setzen sich aus allen Schichten der Gesellschaft zusammen, man sieht reich gekleidete Matronen, elegante Herren, Kleinbürger bis hin zu Sklaven in grob gewebten Tunikas. Neben dem Eingang bieten ein Verkäufer von Götterbildern und ein Verkäufer von Votivtafeln ihre Waren feil. Im zweiten Abteil hinter dem Vorhang befinden sich jene Maschinerien, mit deren feinen Mechanismen Simon Mago seine „Wunder“ vollbringt. Ein schmaler Spalt im Vorhang gibt den Gläubigen einen Blick in das Heiligtum frei. Simon Mago, in einem reichverzierten Mantel und einer silbernen Tiara auf dem Haupt, hält eben einen goldenen Kelch erhoben. Ein blendender Blitzstrahl aus dem hinteren Teil des Tempels illuminiert für kurze Zeit die Gestalt des Wundertäters. Zwei Priester halten ein goldenes Becken unter den Kelch, weitere acht Priester sind unter einer vielfarbigen Statue aufgereiht. Am Fuß der Statue befinden sich einige Jünglinge mit Harfe, Lyra und Sistrum. Die beiden Tempeldiener Gobrias (ein junger Schüler des Simon Mago) und Dositèo, ein alter Priester, stehen neben den Säulen, an denen der Vorhang befestigt ist. In diesem Augenblick füllt sich das Heiligtum mit Rauchschwaden, welche den Magier den Blicken der Gläubigen entziehen, der Spalt im Vorhang schließt sich. Die beiden Tempeldiener verkünden: „Das Mysterium ist abgeschlossen.“ Die Gläubigen ergehen sich nun in Ausrufen der Bewunderung für Simon Mago, der sogar in den Himmel aufgestiegen sein soll. Sie beten Simon Mago an und werfen mit mystisch-philosophischen Begriffen wild um sich: Proarche (Uranfang), Byhtos (die Tiefe des höchsten Seins), Sophia Prunikos (die gefallene Weisheit) Logos, Anthropos, Zoe (das physische Leben) Nous (Vernunftbegabung), oder Ogdoade (die Achtheit von Hermopolis als Kosmogonie vor der Weltschöpfung.) Auf der anderen Seite des Vorhangs – ungesehen von den Gläubigen – sagt Simon Mago zynisch zu Gobrias: „Höre, wie diese gläubige Herde die unverständliche Kabbalah zum Himmel brüllt.“ Gobrias hat sich unterdessen auf einer Liegebank niedergelassen und trinkt vom Opferwein, dann schmückt er scherzhaft seinen Kopf mit einer Girlande aus gelben Blumen, während die Priester zur Ruhe mahnen. Simon Mago reibt sich die Hände und meint: „Betet, ihr Dummen! Betet! Inzwischen lacht der Augur hinter dem Altar.“ Nach einer Weile schickt Simon Mago seinen Schüler Gobrias, die Gläubigen zu verabschieden, damit der Kaiser Nero eintreten könne, diese verlassen nacheinander den Raum. Der alte Priester Dositèo wird angewiesen, sich bereit zu machen, die Stimme des Orakels vorzutäuschen. Gobrias stellt ein Gefäß mit Opferwein bereit und das Simpulum, eine Schöpfkelle, womit die römischen Priester und Vestalinnen beim Opfern den Wein auf die Opferschale zu gießen pflegten. Durch eine Seitentür tritt Nero herein, begleitet von Tigellinus, Terpnus, einigen Prätorianern und einer Zehnerschaft (Decurie) der germanischen Garde, die sich im Hintergrund halten. Auf der hinteren Seite des Vorhangs führt Gobrias nun Asteria herein, die von Simon Mago dahingehend instruiert wird, auf dem Altar zu stehen und die Erscheinung einer Göttin vorzutäuschen. Als Belohnung dafür wird sie ihren geliebten Kaiser Nero aus der Nähe sehen dürfen. Nero wiederum hat auf der vorderen Seite des Vorhangs zu singen begonnen, der Musiker Terpnus begleitet ihn dabei auf einer Lyra. Er singt passenderweise einen Hymnus auf die Göttin Asteria, und als diese hinter dem Vorhang ihren Namen aus dem Munde Neros hört, schlägt ihr Herz gleich höher. Simon Mago gibt ihr die letzten Anweisungen: „In meinem Versteck werde ich alles hören und sehen. Du, meine Sklavin, erwecke in ihm die Hoffnung oder die Angst, und Dein Sklave wird sein, welcher die ganze Welt zum Sklaven hat.“ Dann wechselt Simon Mago auf die andere Seite und fordert Nero dazu auf, das Heiligtum zu betreten. – „Mit dem rechten Fuß zuerst“ korrigiert er Nero, bevor dieser hinter den Vorhang tritt, und verlangt ihm auch eine Verbeugung ab. Simon Mago macht den Kaiser mit dem „magischen Spiegel“ bekannt, worin das „astrale Licht des unendlichen Abgrunds sich bricht“ und vertraut ihm an: „Wenn eine Geistererscheinung Dir Angst macht, brauchst Du nur auf diese Bronze zu schlagen, und das Gespenst verschwindet.“ Dann läßt er Nero in dem dunklen Raum alleine zurück, der gleich darauf die regungslose Asteria auf dem Altar entdeckt, die von einem irisierenden Lichtstrahl wie überirdisch beleuchtet wird. Nero ist nicht wenig hingerissen von dieser „Schutzgöttin der Toten“ (Protettrice dei morti) und stürzt vor ihr nieder. Asteria sagt mit schwacher Stimme wie träumend: „Steh auf und warte!“ Ihr Stimme dringt Nero tief ins Herz, er spricht zu der unbeweglich dastehenden Asteria in schwärmerischen Worten und steigert sich zunehmend in eine ekstatische Begeisterung hinein. Schließlich will er sie umfassen, Asteria entfährt ein kurzer Aufschrei, die Stimme des Orakels donnert: „Nerone-Orestes.“ Im selben Moment erlischt das Licht und der Raum liegt im Dunkel. Asteria steigt langsam vom Altar und nähert sich – innerlich aufgewühlt - dem träumerisch dastehenden Nero. Man hört die Stimme des Orakels mehrmals rufen: „Nero, entfliehe!“ Man will den Kaiser vergraulen, weil die Vorstellung aus dem Ruder zu laufen droht, aber Nero denkt nicht daran, sich zurückzuziehen. Er wird sich im Gegenteil ein Stelldichein mit einer Göttin doch nicht entgehen lassen wollen! Und so geschieht das Unvermeidliche, dass Asteria und Nero sich im Dunkel aneinanderschmiegen und küssen. Doch im selben Augenblick stellt Nero enttäuscht fest: „Unglück über Dich! Du bist eine Frau!“ Das Orakel donnert noch immer: „Nero, entfliehe!“ Weil aber Nero die ganze Magie als Schwindel erkennt, nimmt er eine Fackel und stößt sie in die Mundöffnung des Orakels, hinter dem der Priester Dositèo hervorgelaufen kommt und in Flammen steht. [Arrigo Boito hat an dieser Stelle das Wortspiel Fuggi, Neron! – Ruggi, Simon! (Entfliehe, Nero – Brülle, Simon) eingebaut.] „Er ist ertappt!“ ruft Nero höhnisch lachend, während einige herbeigelaufene Priester sich bemühen, die Flammen an dem brennenden Dositèo zu ersticken. Nero ruft die Prätorianergarde herbei. Er hat Simon Mago nicht flüchten gesehen, und glaubt, dass er sich noch in dem Tempel aufhalten müsse. Während der Tempel von den Prätorianern durchsucht wird, kommen Flaschenzüge und Theatermaschinen zum Vorschein, was endgültig die Schwindeleien des Magiers entlarvt. Zuletzt schleppen die Soldaten auch den gefesselten Simon Mago heran. Nero spricht sogleich ein zynisches Urteil über den Magier: „Oh Paraklet [Heiliger Geist, im Sinne von „Herbeigerufener“]! Ich habe über Dich erzählen gehört, dass Du durch die Lüfte fliegen kannst. Nun gut! Du wirst im Zirkus fliegen am Tag des Festes der Lukarien.“ [Anm.: Die Lukarien oder Juno Sospita-Fest waren bei den Römern ein patriotisches Fest zur Erinnerung an das provisorische Lager, welches Romulus in einem Hain eingerichtet hatte, weil es der neugegründeten Stadt noch an Einwohnern fehlte. Es wurde am 1. Februar gefeiert.] Auch die unglückliche Asteria wird als falsche „Erinnye“ verurteilt. Sie soll den Schlangen im Vivarium des Kaisers vorgeworfen werden. Asteria schreckt jedoch die Aussicht des Todes nicht: „Vergebens verdammst Du mich. Ich werde nicht sterben. Aber ach, töte mich aus Gnade! Ich bin nichts als eine arme vagabundierende Gefährtin der Schlangen. Meinesgleichen kann das Gift nichts anhaben. ... Befreie Dich von mir, denn wenn ich lebe, werde ich Dich immer verfolgen ... weil Du mein Gott bist, weil ich Dich anbete!“ – „Wir werden sehen“ sagt Nero, dann werden die beiden Gefangenen unter dem Jubelgeschrei der Menge abgeführt. In gehobener Laune begibt sich Nero nun zu dem verwaisten Altar des Tempels und wirft sich in Pose: „Jetzt da die Götter besiegt sind – mein ist das Szepter, mein ist der Altar! ... Ich singe!“ Der Vorhang fällt.
Dritter Akt – Der Garten
Im Garten eines unbewohnten Hauses in der Vorstadt, wo sich die Christen für gewöhnlich zu versammeln pflegen. Auf der rechten Seite sieht man einen rustikalen Steinbrunnen, auf dem ein Wasserkrug und eine Schale stehen. Ein Haufen Brennholz liegt daneben. Im Hintergrund befindet sich ein Olivenhain. Auf einem halbrunden Tisch, an welchem mehrere Frauen und Kinder sitzen, lagern die Reste einer bescheidenen Mahlzeit. Die Szenerie wird von den letzten Strahlen des Sonnenuntergangs beleuchtet. Im Vordergrund sind einige der Christen um Fanuèl versammelt, der gerade im Begriffe steht, eine Geschichte zu Ende zu erzählen. Es ist die Bergpredigt Jesu: „Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf einen Berg. Er segnete sie und sprach: – Selig die Sanftmütigen, denn sie werden die Könige auf Erden sein. ...“ Die Worte der fünf Seligpreisungen werden von den Umstehenden jeweils wiederholt. Rubria kommt mit einer Lampe in der Hand und von einigen Mädchen begleitet in den Garten, sie bringen Blumen mit. „Halten wir Nachtwache“ – sagt Rubria – „Der Herr kommt, doch niemand weiß, wann; Selig die, welche er wachend antrifft.“ Während die Mädchen Blumengirlanden binden, singen sie ein begleitendes Lied: „A me i ligustri, a te l'allor – Mir den Liguster, und Dir den Lorbeer.“ Das Lied endet mit den Worten: Glaube, Liebe, Hoffnung. In diesem Moment ist Asteria im Garten erschienen, welcher die Schlangen tatsächlich nichts anhaben konnten, und ergänzt, in den Büschen verborgen, das Lied durch das Wort: Friede. Einige Christen rufen daraufhin erstaunt: „Der Himmel gibt Antwort!“ Als Asteria aber zum Vorschein kommt, glauben alle, dass sie es mit einem Gespenst zu tun zu haben und ergreifen – außer Rubria und Fanuèl – in wilder Panik die Flucht. Auch Asteria hat Rubria von ihrer kurzen Begegnung an der Via Appia wiedererkannt. Rubria fragt nach ihrem Leiden, das Asteria ins Gesicht geschrieben steht, und bietet ihr zu trinken an. Die durstige Asteria nimmt einen tiefen Schluck, dann offenbart sie die Narben, welche ihr die Schlangen beigebracht haben. Eindringlich beginnt Asteria die beiden vor Nero zu warnen, der das Blut der Christen fordere. Sie rät Fanuèl und Rubria, und in weiterer Folge der ganzen Christengemeinde, augenblicklich zu fliehen. Danach entfernt sich Asteria in Windeseile und verschwindet in dem Olivenhain. Rubria will von Fanuèl wissen, ob er denn nichts dazu zu sagen habe, und drängt ihn, sich in Sicherheit zu bringen. Dieser blickt jedoch starr in ihre Augen und fordert sie auf, ihre Sünde zu bekennen. (In Anknüpfung ihres unterbrochenen Gesprächs an der Via Appia im ersten Akt.) Offenbar ist ihm das Seelenheil seiner Schwester im Glauben augenblicklich wichtiger als die drohenden Gefahren. Er solle zuerst fliehen, dann wird sie ihm ihre Sünde beichten, antwortet Rubria. Doch Fanuèl besteht nach wie vor auf ihrer Beichte, scheinbar will er sie dazu bringen, sich ihre Liebe zu ihm einzugestehen. Abermals werden sie jäh unterbrochen: Der Tempeldiener Gobrias ist durch den Olivenhain in den Garten eingedrungen und spricht mit verstellter Stimme: „Habt Mitleid mit einem Blinden, welcher der christlichen Nächstenliebe bedarf!“ Rubria ruft entsetzt: „Der Satan ist hier!“ In der Verkleidung von Bettlern nähern sich Gobrias und Simon Mago und geben sich als Blinde aus. Rubria beschwört Fanuèl, nicht darauf einzugehen, da sie das drohende Unheil fühlt. Aber selbst jetzt noch ist Fanuèl nicht bereit, auf seine Umwelt zu reagieren, und bleibt schweigend stehen. In größter Verzweiflung fragt ihn Rubria: „Warum siehst Du mich an und schweigst? Was denkst Du?“ – „Was ich denke? Kann Liebe denn eine Sünde sein? ... Dies also war Deine Beklemmung“ ist seine Antwort. Erst nach Bereinigung dieser Angelegenheit wendet sich Fanuèl den Eindringlingen zu: „Was will der Blinde?“ fragt er, und als ihm die beiden Gestalten den Spruch von der christlichen Nächstenliebe neuerlich auftischen wollen, ruft er mit fürchterlicher Stimme: „Simon Mago, der Blinde und der Blinden Führer!“ [Anm.: die Wendung „de‘ ciechi Duce“ könnte gut und gern auf den damals aufsteigenden Mussolini gemünzt gewesen sein, wenngleich Boito schon 1918 starb.] Fanuèl hat seinen Erzfeind Simon Mago auch unter Maske des Bettlers erkannt. Gobrias hat unterdessen den Garten verlassen, mit dem Auftrag, das Gerücht auszustreuen, die Christen hätten sich verschworen, Rom anzuzünden. Rubria läuft in das Haus hinein und kehrt kurz darauf mit einigen der Christen wieder in den Garten zurück. Ein römischer Centurio wird hinter den Bäumen sichtbar. Simon Mago glaubt, seine Freiheit erkaufen zu können, indem er die Christengemeinde ans Messer liefert. Unter größter Verstellung ist Simon Mago vor Fanuèl in die Knie gegangen und lügt ihm vor: „Du alleine kannst mich erretten, der Tod erwartet mich. ... Nero befiehlt mir, man entflieht einem Nero nicht! Wohin ich mich auch bewege, verfolgt mich ein Centurio. Aber Du, Prophet des neuen Zeitalters, Du mit den Kräften deiner Magie, Du alleine kannst mich retten.“ Aus dem Olivenhain kommen zwei Zehnerschaften (Decurien) der germanischen Garde mit ihren Decurionen und einige Prätorianer. Nun erhebt sich Simon Mago und zeigt auf Fanuèl: „Dies ist der Mann.“ [Anm.: Der Garten und die Situation des Verrates erinnern auffällig an den Garten Gethsemane, wo Jesus verraten wurde.] Die in dem Garten sich aufhaltenden Christen fordern nun wütend den Tod von Simon Mago und ergreifen diesen in der Absicht, ihn umzubringen. Doch Fanuèl befreit den Zitternden und ermahnt seine Glaubensbrüder, sich der Gewalt nicht zu widersetzen, sondern dem Beispiel des Herrn Jesus Christus zu folgen. Er segnet er die versammelten Mitglieder seiner Gemeinde und begibt sich freiwillig in die Hände der Soldaten. Nun stürzt Rubria herbei, die nicht versteht, warum er sie ohne einen letzten Kuss verlässt, und ihre „heißen Tränen des Abschieds“ nicht beachtet. Darauf antwortet Fanuèl: „Frau, meine Lippen sind aus sterblichem Stoff.“ Nun werden Fanuèl und die übrigen Christen bis auf Rubria von den Soldaten angeführt. Fanuèl fordert seine Mitgefangenen dazu auf, fromme Lieder zu singen. Rubria, die alleine in dem Garten zurückgeblieben ist, lauscht aufgewühlt dem Gesang der Gefangenen, der sich allmählich entfernt: „Es war ein heiliger Traum! Da drüben, ferne, jenes Lied, das erstirbt – ich höre es noch. ... Und er singt: Liebe! ... Ich höre es noch.“ Nach einer langen angsterfüllten Stille sagt sie dann, indem sie sich irgendwo festhält: „Jetzt höre ich nichts mehr!!!“ Dann stürzt Rubria verzweifelt zu Boden. – Der Vorhang fällt.
Zwischenbemerkung: Erst nach dem großen Brand von Rom im Juli des Jahres 64 n. Chr. begann die anfangs milde Herrschaft des Kaisers Nero ausgesprochen grausame Züge anzunehmen. Trotzdem ist es auszuschließen, dass Nero den Auftrag zur Brandstiftung gegeben hat. Bei Ausbruch des Feuers befand sich Nero in seiner Villa im 50 km von Rom entfernten Antium, weshalb die oftmals kolportierte Szene, wonach Nero den Brand besungen hätte, von Haus aus wegfällt. Tatsächlich eilte er sofort nach Erhalt der Nachricht nach Rom, um seine kostbaren Theaterkostüme und seine Kunstsammlung zu retten. Bedenkt man, wie sehr der Kaiser die griechische Kunst liebte, und wie viele Kunstschätze dem Feuer zum Opfer fielen, scheint es unwahrscheinlich, dass Nero den Brand vorsätzlich provoziert haben soll. Nero beteiligte sich persönlich an den Löscharbeiten und öffnete das Marsfeld wie seine eigenen Gärten, um die hilflosen Menschen unterzubringen. Ebenso ließ er Vorräte aus anderen Städten wie Ostia liefern und senkte den Getreidepreis auf 3 Sesterzen pro Scheffel. Die übliche kostenlose Getreideausgabe an die römische Plebs wurde allerdings nach dem Brand gestrichen. Außerdem wurden umfangreiche Gesetzesnovellen ausgearbeitet, um solche Brände in Zukunft zu verhindern, es wurden u. a. Aufseher für die Wasserleitungen eingesetzt, die zivile Bevölkerung dazu angehalten, Löschmittel bereitzuhalten, die Untergeschosse der Häuser aus Stein zu bauen, und die städtischen Straßenzüge offener und freier zu gestalten. Letzteres dürfte erst recht dazu geführt haben, Nero eine Brandstiftung vorzuwerfen, weil er sich hinterher als Bauherr profilieren wollte. Als mögliche Brandstifter kommen indessen Grund- und Bodenspekulanten in Frage. Mehr als ein Drittel der 1,2-Millionen-Stadt verbrannte zu Schutt und Asche. Weil aber die Gerüchte nicht verstummen wollten, welche den Kaiser Nero der Brandstiftung bezichtigten, glaubte dieser, ein Exempel statuieren zu müssen. Als mögliche Sündenböcke bot sich die junge Gemeinde der Christen an. Man warf den Christen vor allem vor, dass sie „einen Hass gegen die Menschen“ hegten. Es ist allerdings eine Tatsache, dass die Christen es verschmähten, im Zuge des Brandes bei den Löscharbeiten mitzuhelfen, und stattdessen prozessierend und Choräle singend durch die brennende Stadt marschierten, weil sie glaubten, der jüngste Tag wäre angebrochen und die lang ersehnte Wiederkunft des Erlösers Jesus Christus gekommen, was sie in den Augen der römischen Bürger noch zusätzlich verdächtig machen musste. Um also bei den Tatsachen zu bleiben: Von den damals 3000 Mitgliedern der römischen Christengemeinde wurden 200-300 angeklagt. Es wurden aber nicht alle Angeklagten zum Tode verurteilt, sondern es gab auch Freisprüche und geringere Strafen. Von einer organisierten Christenverfolgung unter Nero, die sich ebenso auf die römischen Provinzen erstreckt hätte, kann indessen keine Rede sein. Man muss Nero jedoch vorwerfen, dass die Hinrichtungen der Verurteilten besonders grausam vonstatten gingen. Dies geschah vermutlich, um sich vor allem beim niederen Volk beliebt zu machen, zumal im damaligen Rom eine notorische Abgestumpftheit und sogar ein Verlangen nach derlei Grausamkeiten herrschte. Die Rechnung Neros ist aber nicht aufgegangen: Bei der Bestrafung der verurteilten Christen hatte der Kaiser derart über die Stränge geschlagen, dass das römische Volk im Gegenteil noch von Mitleid ergriffen wurde und vielleicht auch von Hochachtung über die entschlossene Haltung, mit welcher ein Großteil der Verurteilten starb, wodurch Nero noch zusätzlich an Popularität einbüßte. Um die Gunst des Volkes zu gewinnen, lud Nero bisweilen die ganze Stadt zum Trinken ein. Um jedoch nach dem fatalen Brand die gewaltigen Kosten des Wiederaufbaus zu finanzieren, zog Nero nicht bloß unfreiwillige Spenden von Privatleuten und Gemeinden heran, sondern begann auch damit, ganze Provinzen und insbesondere deren Tempelschätze auszuplündern. Im Zusammenhang damit könnten auch die Plünderungen des Tempels von Jerusalem durch den Statthalter Gessius Florus stehen, welche im Jahre 68 n. Chr. den Jüdischen Krieg auslösten.
Vierter Akt – Der Circus Maximus,
Erster Teil: Das Oppidum
Für alle diejenigen, die keine Lateiner sind, sei eingangs erläutert: Als Oppidum (kleine Stadt) oder auch Carceres wurden jene steinernen Ecktürme im römischen Circus Maximus bezeichnet, welche das untere Ende der Rennbahn flankierten, von wo aus die Wagen starteten. Im oberen Teil der zweistöckigen Türme befand sich die Kaiserloge und die übrigen Ehrenlogen. (Erst Kaiser Trajan ließ seitlich der Rennbahn eine pompösere Kaiserloge einbauen.) Bereits zu Cäsars Zeiten dürfte der Circus Maximus eine Kapazität von rund 145.000 Zuschauern besessen haben. Nero selbst war ein begeisterter Wagenlenker, was ihm wiederum die konservativen Senatoren übelnahmen.
Wenn der Vorhang aufgeht, sieht man das Innere des Oppidums durch seine zentralen Bogen – auch Porta pompae genannt – und zwar in schräger Perspektive, sodaß auch ein Ausschnitt des davor liegenden Forum Boarum (der Viehmarkt) zu sehen ist. Hinter den Bogen des Oppidums eröffnet sich das Innere des Circus Maximus, eine Treppe führt zu den Logen hinauf, an der Außenfront des Oppidums gibt es mehrere Tavernen und Lagerräume, auf dem Platz herrscht reges Treiben. Soeben haben sich die klassischen Zirkusparteien – die „Grünen“ und die „Blauen“ – ein Wagenrennen geliefert, aus welchem die Grünen als Gewinner hervorgegangen sind. Ihre Siegesrufe sind ebenso zu hören wie die Flüche der unterlegenen Partei. Da tritt auch Simon Mago auf, gefolgt von einem Centurio, der ihn beschattet und nicht aus den Augen läßt. Sein Schüler Gobrias kommt eben aus dem Zirkus und ruft scherzhaft: „Die Grünen haben gewonnen – Rom ist gerettet.“ Aber das ist es nicht gerade, was Simon Mago zu wissen begehrt. Gobrias erzählt also in leiserem Tonfall, daß die zur Schlangengrube verurteilte Asteria mit dem Leben davongekommen sei, was Simon Mago mit großer Sorge vernimmt: „Sie haßt mich und wird mich verraten.“ Gobrias jedoch versucht seinen Meister zu beruhigen, indem er meint, daß Asteria die Christen liebe und diese retten werde, und mit ihnen werde auch Simon Mago seinen Kopf aus der Schlinge ziehen. Der skeptische Simon Mago verlangt den Spielplan zu sehen. Aus dem Bogengang des Oppidums tauchen paarweise einige bewaffnete Gladiatoren in kampfbereiter Haltung auf, angeführt von vier Aeneatoren (militärische Hornbläser), einem Standartenträger, dem Lanisten (Eigentümer der Gladiatorenschule) und einem Sklaven, welche soeben den Zirkus betreten. Der von Simon Mago verlangte Spielplan ist an einer der Säulen der zentralen Bogen an der Porta pompae befestigt, Gobrias liest vor: „Die Gladiatoren von Praeneste – schon vorbei – Die Hinrichtung der Dirce, Pantomime mit Stieren und Windhunden und dem wirklichen Tod von Christen-Frauen – Lorbeergekrönter Märtyrer am Kreuz von den Bären zerfleischt“ – „Das ist Fanuèl. Lies weiter!“ unterbricht ihn Simon Mago. Nun ist Gobrias beim letzten Programmpunkt angelangt: „Der Flug des Ikarus.“ Mit dieser Ankündigung ist Simon Mago gemeint. „Es möge Dir wohl bekommen“ ruft Gobrias noch spöttisch und verschwindet im Gewölbegang auf Nimmerwiedersehen. Aus dem Zirkus erschallen laute Rufe – macte virtute (Heil Deiner Tapferkeit!) und eugae (herrlich, vortrefflich!) – während sich eine Menschenmenge in das Innere des Oppidums drängt. Ein andalusisches Mädchen kommt mit ihren Verehrern aus einer Taverne gelaufen und beginnt mitten auf dem Platz zu tanzen, begleitet von den Klängen eines Horns, einer Trommel und der Schwanzrassel einer Klapperschlange. Nero und Tigellinus steigen die Treppe zur Kaiserloge herunter und führen ein knappes Gespräch in abgerissenen Sätzen: „Was werde ich sagen?“ – „Eine Verschwörung ...“ – „Gegen mich?“ – „Gegen Rom. Um ihn vom Tod zu retten, werden die Priester des Simon Mago eher die ganze Stadt anzünden, bevor er auf den Turm steigen kann, um seinen Flug zu beginnen. ...“ – „Schweig!“ unterbricht ihn Nero. Aus dem Zirkus ertönt ein monströses Spektakel, die Menschenmenge fordert die Dirce-Pantomime. Laut einem griechischen Mythos soll Dirce, die gewalttätige Frau des Königs Lykos von Theben, ihre verwitwete Nichte Antiope auf sadistische Weise gefoltert und gequält haben, bis sie von ihren eigenen Neffen Zethos und Amphion hingerichtet wurde, welche Dirce an einen Stier festbanden und von diesem zu Tode schleifen ließen. Diese Hinrichtungsart soll nun an den christlichen Frauen statuiert werden, und das blutrünstige Gesindel im Zirkus, das sich noch gegenseitig aufstachelt, verlangt nun mit höllischem Getöse den Beginn des blutigen Schauspiels: „Vogliam le Dirci!“ Der Prätorianer-Präfekt Tigellinus ist zwar ein hartgesottener Bursche, aber die zu erwartende Blutorgie ist ihm auch nicht einerlei. Wortgewandt versucht er, Nero zu einer Begnadigung der Verurteilten zu bewegen. Tigellinus mahnt zur Vorsicht: die Anhänger des ebenfalls verurteilten Simon Mago könnten notfalls Feuer legen, um die Hinrichtung in letzter Minute zu verhindern. „Die Prätorianer warten nur auf ein Zeichen von mir, um ihnen den Tod zu erlassen.“ Nero will nichts davon wissen und fordert Tigellinus immer heftiger zum Schweigen auf. Vielleicht weniger aus Grausamkeit, sondern weil der Kaiser fürchtet, mit einer Begnadigung die rasende Menge gegen sich aufzubringen. Zuletzt ruft Nero in einem Wutanfall: „Hörst Du denn das Volk nicht brüllen? Sie wollen die Dircen haben!“ Schon sammelt sich ein Haufen von maskierten Pantomime-Darstellern in bunten Kostümen vor dem Zirkus, mit festen Schnüren in den Händen. Nero schnauzt die Wachsoldaten an: „Und Ihr werft diese Gladiatoren hinaus. Die Toten in das Spoliarium (der Ort, an dem die Leichen entkleidet wurden.) Gebt dem Volk die Dircen!“ Von den Schauspielern will er wissen: „Sind die Stiere bereit? Und die Schnüre? Und der Felsen des Kithairon? (Wo Antiope angekettet war.) Und die Windhunde? Und die Bogenschützen? ... Die Darsteller von Amphion und Zethos! ... In Theben wurde nur eine Dirce hingerichtet, ich aber töte derer gleich Hundert.“ Mit einem Händeklatschen scheucht er die Schmierenkomödianten auf die Bühne, um das blutige Schauspiel zu beginnen. Anschließend nimmt Nero den Präfekten Tigellinus beiseite und erläutert ihm ironisch: „Du schlauer Agrigentiner, hast Du nicht bemerkt, daß ich alles schon im Vorhinein wußte? Wehe, Du stellst Dich jener Feuersbrunst entgegen, welche mir der Himmel anbietet. ... Die Welt ist mein! Vor Nero wußte keiner, wieviel derjenige wagen darf, welcher regiert.“ Hinter dem inneren Portal nähert sich langsam eine schreckliche Prozession. Zuerst marschieren die Christen-Frauen, ihnen vorausgehend Fanuèl, mit gebundenen Händen, in denen sie jede einen mit Weinlaub umwundenen Tyrsosstab oder ein anderes bacchantisches Symbol tragen. Diejenigen welche zurückbleiben, werden mit Peitschenhieben angetrieben. Dahinter folgen Bogenschützen im Jagdkleidung und eine Horde von Pantomimen in bunten Masken. Simon Mago und seine Priester stehen etwas abseits, und verspotten Fanuèl, als dieser an ihnen vorbeikommt. Die rasende und blutdurstige Menge fordert schreiend und wütend ihren Tod. Als der Lärm am größten ist, erscheint zum Erstaunen aller eine verschleierte Vestalin in der Arena. Die vestalischen Priesterinnen waren in der römischen Gesellschaft hoch geachtet, sie genossen viele Privilegien und verfügten überdies über einen enormen politischen Einfluß. Als solche stand ihnen auch das Recht zu, Verurteilte zu begnadigen. Die soeben erschienene Vestalin schreitet feierlich zu dem gefesselten Fanuèl, legt ihm ihre Hand auf den Kopf und begnadigt ihn Kraft ihres heiligen Amtes. Der fassungslose Nero betrachtetet die seine Pläne durchkreuzende Priesterin zunächst langsam durch einen geschliffenen Smaragd, dann fordert er sie auf, ihr Gesicht freizulegen, was diese jedoch verweigert. Zornig lässt sich Nero nun vernehmen: „Beim Juppiter! Wer reißt ihr den Schleier herunter?“ – „Ich!“ antwortet eilfertig der schmierige Simon Mago und hat mit einer schnellen Handbewegung das Gesicht der vestalischen Priesterin freigelegt. „Ein Sakrileg!“ ereifern sich einige Leute. Aber es stellt sich sogleich heraus, dass es sich überhaupt um keine Priesterin handelt, sondern es ist Rubria, die sich als eine solche nur maskiert hat, um ihre Glaubensgefährten und Fanuèl zu erretten. Doch alles ist in diesem Moment verloren. Simon Mago, der selbst um seinen Hals fürchtet, zögert nicht lange und denunziert Rubria vor der aufgebrachten Menschenmenge als Christin. Nun erhebt sich erst recht ein wildes und ausgelassenes Geschrei, mit den Hinrichtungen sogleich zu beginnen. Mit einer gebietenden Handbewegung befielt Nero der Menge zu schweigen. Auf sein Geheiß entfernt der Flamen, der Opferpriester, die heilige Tiara vom Haupt der falschen Vestalin. Daraufhin werden der entsetzten Rubria die Kleider brutal vom Leibe gerissen. Fanuèl, der sie beschützen will, wird von den Bogenschützen eingekreist. Dann werden Fanuèl und Rubria zu den übrigen Christen gestoßen, die vor dem qualvollen Tod, der sie erwartet, eine unerschütterliche Haltung bewahren und mit lauter und fester Stimme ihre Hymnen singen: „Credo in un Dio solo ed eterno.“ Die tobende Menge des Volkes hat neuerlich zu brüllen begonnen. Mit Enthusiasmus hält Nero eine nahezu poetische Ansprache: „Hände an die Stricke, an die wilden Tiere, an die Frauen.“ Er beschwört nun in blutgetränkten Bilden das zu erwartende Schauspiel, und berauscht sich an dem Gedanken von nackten Frauenkörpern, die an das Hinterteil von wütenden Stieren angebunden sind, welche in einer Sturmwolke „trunken von Furcht“ von den Windhunden gehetzt werden. Er phantasiert von schönen, blutübergossenen Frauen, unter den Strahlen der smaragdenen Sonne sterbend. [In der längeren Textausgabe von 1901 läßt Nero sich sogar zu der Äußerung „Das Schreckliche (Monströse) und das Schöne“ hinreißen. Dies wurde von Boito gestrichen, wohl in der Einsicht, dass die römischen Cäsaren mit der Ästhetik der Dekadenz-Literatur des Fin de Siècle wenig zu tun haben.] Nun macht sich Nero auf den Weg zur Kaiserloge, während die letzten Pantomimen den Zirkus betreten. Unterwegs bemerkt er Simon Mago, und meint lachend zu Tigellinus: „Der wird sogleich vom Turm des Oppidums in den Himmel geworfen. Du fliegst nicht? Steig auf zum Äther, zu den Sternen, zur Sonne! Ikarus, fliege!“ Die germanische Garde packt Simon Mago und schleppt ihn den Treppenaufgang des Oppidums hinauf. Dabei entdeckt Simon Mago unter der Menge seinen vormaligen Schüler Gobrias, der jetzt ebenfalls wieder aufgetaucht ist, aber nicht viel Mitleid mit seinem Meister zeigt. – „Geh‘ nur! Keine Furcht!“ lacht Gobrias. Lachend betritt nun auch Nero den Zirkus: „Ikarus, fliege! Fliege! Fliege zur Sonne!“ Aus dem Inneren ertönt unentwegt das lärmende Geschrei des Publikums: „Zum Tode mit den Dircen! Wir wollen die Tragödie! Er will nicht sterben! Pollice verso! (Daumen nach unten!)“ Nach einer Weile hört man ein schreckliches Gebrüll aus der Tiefe des Kryptoportikus und den höheren Teilen des Gebäudes, von wo sich eine Rauchwolke auszubreiten beginnt. Die Schreckensrufe werden lauter und kommen näher. Der schwelende Rauch dringt ins Oppidum, und man hört Gobrias rufen: „Das Feuer kommt aus den Lagerhallen!“ Andere rufen: „Zu Hilfe! Der Zirkus steht in Flammen! – Rettet die Frauen – Flieht! Flieht! – Dort hinaus! – Nein! Bleibt zurück! Zu Hilfe!“ In den Rauchschwaden sieht man überall flüchtende Menschen, die aneinander stoßen und zu Boden stürzen. Das Oppidum ist nun nichts anderes mehr als ein rauchender Höllenschlund.
Zweiter Teil: Das Spoliarium
Der Schauplatz des zweiten Teils des vierten Aktes ist das Spoliarium, ein unterirdischer Raum im Circus Maximus, wohin man die toten Gladiatoren brachte, um sie zu entkleiden und ihrer Waffen zu entledigen. (Plinius verwendete das Wort übrigens auch im übertragenen Sinne als Raubnest, wohin das von den Bürgern erpresste Vermögen deponiert wurde.) Asteria, mit einer Fackel in der Hand, und Fanuèl steigen soeben die Treppen herunter. „Suchen wir sie unter den Toten“ sagt Asteria. Die beiden sind auf der Suche nach Rubria, die im Zirkus verwundet worden war. Fanuèl wird in jenen unterirdischen Gewölben an eine Gruft erinnert. Asteria will keine Zeit mit derlei Betrachtungen verschwenden, von oben hört man das Brausen des Feuers, hastig wiederholt sie: „Suchen wir!“ Mit der Fackel leuchten sie nacheinander in die Gesichter der aufgebahrten Kadaver. Dabei entdecken sie zunächst den zerschmetterten Leichnam des zu Tode gestürzten Simon Mago. Nach fortgesetzter Suche stoßen sie dann auch auf Rubria. „Himmel ... sie atmet ... sie wird leben!“ ruft Fanuèl. Doch Asteria sieht nur wenig Hoffnung für die Sterbende, deren Verwundungen zu schwer sind. Fanuèl möchte Rubria nach oben tragen, aber Asteria hält ihn zurück: dort oben stehe alles in Flammen, zudem könnte er sie umbringen, wenn er das verwundete Mädchen zuviel bewegt. Als Asteria den Feuerschein auf den Treppen des Spolariums sieht, eilt sie nach oben. Fanuèl läßt sich mit Rubria auf den Treppen nieder, als sie die Augen öffnet, erkennt sie Fanuèl, der sie beruhigt. Auf die Frage, ob sie sterben werde, antwortet Fanuèl: „Du wirst leben.“ Mit letzter Kraft küßt sie Fanuèls Hand, er möge nicht weinen, sondern sie fest umarmen. Nun gesteht sie ihm auch jene Sünde, die sie auf dem Herzen habe, und wovon schon mehrmals die Rede war: Sie habe zwei Religionen zugleich gedient: In einem Versteck in dem Garten der Christen habe Rubria auch einen kleinen Tempel der Vesta samt dem heiligen Herdfeuer unterhalten. Fanuèl nennt Rubria seine Braut, die ihm am Herzen ruht. Rubria bittet ihn, die Geschichte von Jesus auf dem See Genezareth zu erzählen, was dieser auch sogleich tut, quasi als ein Wiegenlied, um Rubria in den Schlaf zu wiegen, damit sie sich ausruht. Als Rubria jedoch regungslos in seinen Armen liegt, und auf seine Rufe nicht mehr reagiert, versucht er verzweifelt sie wiederzubeleben. In diesem Moment kehrt Asteria zurück und läuft eilig die Treppen herab. Das Gebäude stehe in Flammen, die Flucht scheint unmöglich. Da entdeckt Asteria im Schatten eine unverschlossene Türe: „Ein Hoffnungsstrahl!“ Asteria öffnet rasch die Türe und verschwindet kurz dahinter, um die Lage auszuforschen, danach kehrt sie zurück, um zu verkünden: „Der Durchgang ist frei! ... Laufen wir!“ Der völlig niedergeschlagene Fanuèl bleibt jedoch regungslos über dem Leichnam Rubrias und ruft: „Sie ist tot!“ Um keine Zeit zu verlieren, wird Fanuèl von Asteria zu dem Fluchtweg geführt, mit den Worten „Rubria! – Lebe wohl!“ nimmt er Abschied und verschwindet in dem Durchgang. „Rubria! Du? Welche mein schrecklicher Abgott vom Altar gerissen hat? ... Heilige Märtyrerin!“ sagt Asteria, während sich der Raum mit Rauch zu füllen beginnt. Nun legt Asteria jene vertrockneten Blumen neben die Tote, welche ihr Rubria an der Via Appia im ersten Akt gegeben hat: „Friede! Friede! Friede!“ Dann eilt auch sie hinaus.
Nachwort:
In der Tat arbeitete Arrigo Boito seit dem Jahr 1862 an seiner Oper Nerone, die zuletzt unvollendet blieb, und von Arturo Toscanini und Antonio Smareglia zumindest soweit fertig gestellt wurde, dass man das Werk im Mai 1924 auf die Bühne der Mailänder Scala bringen konnte. Boito, welcher als Senator des Königreiches Italien 1915 seine Stimme bedauerlicher Weise für den Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg verwendete, hatte 1917 die Front besucht, wodurch sich sein latentes Angina pectoris-Leiden derart verschlimmerte, dass er praktisch nicht mehr komponieren konnte. Am Morgen des 10. Juni 1918 ist Arrigo Boito seiner Krankheit erlegen. Ursprünglich hätte es noch einen fünften Akt mit dem Titel Das Theater des Nerone gegeben, zu dessen Musik – wenn überhaupt – nur spärliche Skizzen vorhanden waren. In kurzen Worten zusammengefasst wäre der Inhalt des fünften Aktes folgender gewesen: Vor der Kulisse der brennenden Stadt Rom befindet sich Nero in seinem privaten Theater und probt die Rolle des Orestes von Aischylos. [Vermutlich weil Orestes im letzten Teil der Trilogie (Die Eumeniden) durch die Göttin Athene von seiner Schuld des Muttermordes freigesprochen wird, und die Erinnyen sich in Eumeniden (Wohlgesinnte) verwandeln.] Dem opportunistischen Gobrias obliegt die Einstudierung des Chores. Tigellinus darf den begeisterten Zuschauer spielen und applaudieren. Trotzdem verwechselt Nero bald die Dichtung mit der Realität, das Gespenst der Agrippina erscheint ihm zwischendurch, der Chor der Erinnyen, die ihn gemäß des Theatertextes als Muttermörder beschuldigen, macht ihn zusätzlich nervös. Da erscheint Asteria mit einer Handvoll Schlangen in der Hand, die sich trotz allem in Sehnsucht nach ihm verzehrt. Nero wird inzwischen von Visionen seiner ermordeten Opfer geplagt. Während Asteria und Nero sich hingerissen auf einem Bacchus-Altar wälzen, stößt sich Asteria, in höchster Ekstase, ein Messer durch das Herz und stirbt. Nero bleibt alleine zurück, er wird von den Gespenstern der ermordeten Christen verflucht und sukzessive in den Wahnsinn getrieben.
Musirony - Engelbert Hellen