Nach einem Libretto wird gesucht – Der Komponist in der Verlegenheit
Einen Opernkomponisten stelle ich mir wie eine Hühnerhenne vor, die nicht weiß, wann wie und wohin sie ihr Ei legen soll. Der Kopf und das Herz des Tonschöpfers sind bis zum Bersten mit Melodien gefüllt, die drängen, das Licht der Welt zu erblicken. Auf dem Piano spielt der Ungestüme sie herunter und holt Notenpapier hervor, um seine Geistesblitze festzuhalten. Er hat es eilig, das Material zu ordnen, bevor es seinem Hirn wieder entschwindet.
Die Vorstellungen, die ihn plagen, welcher Typus auf der Bühne seine Melodien vorführen soll, sind zunächst vage. Die hohe Literatur kommt ihm als erstes in den Sinn und er überlegt, welcher Dramatiker bereits Rollen geschaffen hat, die seiner Emotion und seinem Temperament entgegenkommen. Da wären Phädra, Medea, Romeo und Julia und oder die Tudor-Königinnen. Der vertraglich ausgemachte Termin drängt, seine Oper abzuliefern und er hat sich noch für kein Textbuch entschieden. Der Nachahmungstrieb kommt ihm zur Hilfe, bei den Kollegen nachzuschauen, womit diese Erfolgt hatten. Könnte es nicht sein, dass ihm das hochverehrte, wenn auch degenerierte Publikum den rauschenden Beifall auch beschert, wenn er sich an das gleiche Strickmuster hält?
Nicht mehr so häufig, aber es kommt in heutiger Zeit doch vor, dass Material, welches schon oftmals als Sprechstück oder Ballett dramatisiert wurde, erneut auf die Bühne gebracht wird. Zu Zeiten des Barock und der Romantik waren Libretti durch staatliche Gesetze nicht geschützt und wenn Pietro Metastasio ein neues Büchlein geschaffen hatte, stürze sich gleich ein Rudel Komponisten – unbekannte, aber auch solche, die sich schon etabliert hatten – auf den Text, um diesen ihrem Notenmaterial gefügig zu machen. Solche Bequemlichkeit hat dazu geführt, dass manche Themen aus Literatur und Weltgeschichte immer wieder herangezogen wurden und andere buchstäblich darauf warten, angepackt zu werden.
Ich denke mir, dass der Prozess des Komponierens dem Tonschöpfer leichter fallen würde, wenn er im Vorfeld schon weiß, welche Charaktere seine Melodien tragen. „Am Anfang stand das Wort...“ sagt schon die Bibel und das Wort liegt beim Textschöpfer. Wenn dieser nun das Thema bereits angerissen und gegliedert hat, könnte die Seele des Musikers, die bereits schwingt, noch mehr angeheizt werden.
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April 2010 musiurony – Engelbert Hellen