EINLEITUNG
Erster Akt:
1-3
Der unaufhörliche Streit zwischen Königtum und Kirche zieht sich als Ärgernis durch die abendländische Geschichte. Heinrich II. schickt seinen ehemaligen Lordkanzler ins Exil, weil er sich in seiner Eigenschaft als Erzbischof von Canterbury unbefugt in seine Rechtsordnung einmischt.
Nach sieben Jahren Verbannung ist Thomas Becket nun aus Frankreich zurückgekehrt, denn er möchte seine Herde nicht länger ohne Hirten lassen. Die Frauen von Canterbury - durch die erste Chorführerin exemplarisch vertreten - sind sich nicht einig, ob sie über die Heimkehr ihres Erzbischofs glücklich sein sollen. Sie befürchten, dass sein Leben in England nicht sicher ist und die Streitereien, die in der Regel auf den Köpfen der kleinen Leute ausgetragen werden, ihre Fortsetzung finden werden. Wäre es nicht besser, wenn ihr Seelenhirt das ankommende Schiff in Dover gar nicht erst verlassen würde? Nun, sie wollen warten und geduldig Zeuge sein.
4-6
Ganz anders verhält sich die Priesterschaft. Die Kleriker ermahnen die Frauen, ihre Bedenken zurückzustellen und dem Ankömmling einen freudigen Empfang zu bereiten. Gedankt wird den drei Priestern ihre Fürsorge nicht. Auf ihre bange Frage, ob es nun zwischen Kirche und Krone Frieden geben wird, erhalten sie von dem Ankommenden keine eindeutige Antwort. Sie versichern ihrem Oberhirten, dass er seine Räumlichkeiten so wiederfinden wird, wie er sie vor Jahren aufgegeben hat. „So wie er sie vorfindet, möchte er sie auch bald wieder verlassen“, lautet die unfreundliche Antwort. Sagt ihm sein Unterbewusst bereits, dass sein Aufenthalt auf dieser Erde nicht mehr von langer Dauer sein wird? Die Frauen drängen ihn, wieder nach Frankreich zurückzufahren. Von ihnen hat Thomas Becket ohnehin keine hohe Meinung. „Sie sagen viel mehr, als sie wissen und ahnen mehr, als sie verstehen.“ Auf die erste Chorführerin trifft die Aussage gewiss zu. Denn für ihre Zeit ist sie erstaunlich emanzipiert und trägt selbst in der Kirche kein Kopftuch. Ihre dramatischen Ausbrüchen ängstigen das Publikum. Thomas Becket weiß, dass der gierige Falke sich auf ihn stürzen wird, wenn er eine gewisse Zeit über seinem Haupt gekreist ist und er richtet sich allgemein auf einen Schattenkampf ein.
7-12
Dieser beginnt mit der Ankunft der vier Versucher. Farblich differenziert und auffällig gekleidet sind es im Auge des Publikums existierende Personen. In Wirklichkeit ist es jedoch Beckets Unterbewusstsein, welches Materie angenommen hat. Becket ist voller Zweifel, ob er alles richtig machte oder ob er dem Gaukelspiel der bizarren Besucher nachgeben soll. Die Verlockung und der praktische Nutzen ist groß, denn es liegt durchaus im Bereich der Möglichkeit, Freundschaft und Gunst des Königs zurückzugewinnen. Diese garantieren ihm ein mit Freude erfülltes, lockeres Leben und Anteil an der Macht, wenn er sich angemessen verhält. Die anderen Versucher raten, entweder die Monarchie zu stürzen, indem sie einen Volksaufstand anzuzetteln oder aus Ruhmsucht die Krone des Martyriums anzustreben. Rhetorisch gehen die Versucher geschickt vor und verstehen es, ihr Angebot aufwändig zu gestalten. Das Zuletztgenannte ist ausgesprochen infam. Thomas fleht zu Gott, ihm die Entscheidung zu erleichtern.
ZWISCHENSPIEL
13
Das Resultat seiner Überlegungen gibt Thomas Becket am Weihnachtsmorgen in seiner Predigt vor den Gläubigen bekannt. Wirklich glücklich ist nur der, der sich dem Willen Gottes fügt, sich passiv verhält und Gnade so annimmt, wie sie an ihn herangetragen wird. Es gibt nichts Schöneres, als dem Willen des Schöpfers untertan zu sein.
Zweiter Akt:
14-15
Die Frauen von Canterbury finden immer etwas zum Jammern. Sie hatten sich zu Weihnachten Frieden auf Erden gewünscht, der aber wiederum nicht eingetroffen ist.
Stattdessen erscheinen vier Ritter mit dunklen Absichten. Sie verstehen sich als Beauftragte des Königs und suchen die verbale Auseinandersetzung mit dem Erzbischof. Die Ankläger beschuldigen ihn des Hochverrats, den dieser zurückweist, weil er eine völlig andere Sichtweise hat. Becket pocht auf die Vorrechte der Kirche, die vom König streitig gemacht werden. Es kommt zu keiner Verständigung. Der Erzbischof behauptet, der Sprecher Christi auf Erden zu sein und nur Gott oder dem Vatikan zu gehorchen habe. Die vier apokalyptischen Besucher versprechen, später mit dem Schwert zurückkommen.
16-17
Der Frauenchor spürt den Hauch des Todes und bitten ihren Erzbischof, für sie zu beten. Dieser kann sie beruhigen und setzt ihnen auseinander, dass ihre Ängste ein Teil der Bürde sei, die ihn zur wahren Glorie führen werde. Theologisch verbrämt, rutscht der Dialog nun ins Irreale ab. Es sei der Wille des Herrn, ihn mit der Lanze zu durchbohren, damit ihre Herzen gleichzeitig mit Leid und Freude gefüllt werden.
18
Die Priester, die ihn zur Abendmesse holen, machen sich Sorgen und erwägen, sein Leben wehrhaft zu schützen. Sie beabsichtigen, die Türen der Kathedrale zu versperren, was Becket aber zurückweist. Auch Feinde sollen das Recht haben, jederzeit in der Kirche beten zu dürfen.
19-20
Das Schicksal nimmt seinen Lauf. Die Ritter drängen sich in die Kathedrale. Es kommt zum Wortwechsel und erneut zur harten Anklage. Der Erzbischof kann sein Schicksal wenden, wenn er sich dem König unterwirft. Doch der Angegriffene hat sich bereits auf das Martyrium eingestellt, gibt nicht nach und weicht auch nicht von der Stelle. Die Historie berichtet, dass es zum körperlichen Einsatz kommt und dem Unnachgiebigen mit dem Schwert der Schädel gespalten wird. Im Angesicht der Gemeinde bricht der Erzbischof vor dem Altar zusammen. „Dio per la Tua gloria.“
Anmerkung:
Dem Komponisten gelingt das Kunststück, den spröden Text durch gewaltige orchestrale Harmonien und eine überraschend melodische Gesangslinie aufzuweichen.
Die Bühnenwirksamkeit ist unvergleichlich und Eliots Idee, die vier Versucher im Lauf der Handlung später als Ankläger auftreten zu lassen, erzeugt einen sensationellen Spannungsbogen. Auch der theologisch nicht Interessierte versucht, den Kern der inhaltlichen Aussage herauszufiltern und lässt das monumentale Bühnengeschehen auf sich wirken.
Getragen wird das Seelendrama von der überragenden Persönlichkeit des Geistlichen, dem in der ersten Chorführerin eine dominante Gegenspielerin erwächst, die mit ihrem anhaltenden Pessimismus zu seinem Seelenfrieden nichts beiträgt. Becket weiß, dass seine Tage gezählt sind, und dass er gegen den Machtanspruch des Königs nicht ankommen wird. Im Grunde seines Innern will er selbst auch nichts anderes als eigenen Machtanspruch behaupten, hat aber im französischen König und in Papst Alexander III. keine wirklich starken Verbündeten.
Mit Thomas in alten Zeiten befreundet, hat Heinrich II. die politische Karriere des Emporkömmlings gestützt und ihn zuerst zum Lordkanzler und dann zum Primas von England ernannt, um im Kampf gegen die Barone eine Stütze zu haben. Aber was macht Becket? Er fällt seinem Souverän in den Rücken und sucht eigenes Terrain, um zu dominieren. Der König leidet unter dem Bruch, er wollte den Freund als Stütze gegen seine Feinde, aber nicht als Gegenspieler. Beide sind machtbesessen und beide scheitern an ihrer Unnachgiebigkeit und ihrer Unfähigkeit, sich arrangieren zu können. Jean Anouih bringt in seinem Drama die menschliche Katastrophe packend zum Ausdruck. Das Anliegen des Franzosen ist auch nicht die theologische, sondern die psychologische Auseinandersetzung der beiden Protagonisten.
Ildebrando Pizzetti geht beiden Aspekten aus dem Weg. Unbeeindruckt von der theologischen Problematik komponiert er eine monumentale Musik und setzt ein optisch wirksames Bühnengeschehen in Gang, welches seinem Werk einen unverrückbaren Platz im zeitgenössischen Musiktheater garantiert.
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Musirony 2008 - Engelbert Hellen