OUVERTÜRE UND EINLEITUNGSCHOR
Im Arbeitskampf der Minenarbeiter geht es aufwärts. Ein Silberstreifen zeigt sich am Horizont für die Verlausten, die der Kummer des Hungers plagt. Ihr ganzes Leben schufteten sie, und sie lebten ohne Freude und Wohlgefühle. Hunderte, nein, es sind Tausende, die von ihnen aufstehen werden, um sich im Arbeitskampf gemeinsam gegen bestehendes Unrecht mit lautem Gebrüll zur Wehr zu setzen. Machtvoll werden sie sein, wenn sie erst die Hände voller Geld haben. Dann wird Fleisch gegessen und zu den Mahlzeiten eine Flasche Wein getrunken. Die traditionellen Tänze sind nicht in Vergessenheit geraten! Simon wird ihnen seinen Stock ausleihen, damit der Takt geschlagen werden kann, um das neue Lebensgefühl auf Touren zu bringen.
Erste Szene:
Der Vorhang öffnet sich und zeigt das Bild einer bescheidenen Wohnung.
Chansons wie diese hat Jakob schon mehr als einmal gehört. Unter lautstarkem Krakeelen ließen sich die Zornigsten von ihnen in dieser Form vernehmen. Aber nichts hat sich seit jeher bewegt. Es sind immer die gleichen Strophen und es klingt immer der gleiche Refrain. Das Geplärre ist vollkommen unnütz! Die Bergarbeiter werden immer nur die Schalen erhalten, aber an die Kartoffeln werden sie nicht herankommen. Einen Schlag auf den Kopf und das ist alles!
Dennoch, meint Jakob, hat jeder das Recht zu protestieren und darf seinen Anspruch anmelden, dass sein Hunger gestillt werde. Wenn man den Rücken der reichen Patrone ein bisschen schlägt, ist es für diese gut und auch für den Einzelnen. Er selbst wird bei einer Pfeife und einem Tässchen Kaffee warten, bis der Sturm vorüber geht - so es Gott gefällt.
Zweite Szene:
Amelie fragt ihren Vater, wohin Pierre gegangen ist. Wo soll er schon sein? Kann sie es sich nicht denken? Sie braucht sich doch nur die Protestgesänge anhören, die von draußen ins Zimmer schallen. Noch müssen sie hungern, aber bald werden sie die Hände voller Geld haben, meinen sie. Pierre sitzt bei einem Umtrunk mit den anderen gesellig beisammen und schreit mit dem Volk. Amelie glaubt es nicht. Der Papa weiß doch ganz genau, dass Pierre nur wenig trinkt. Seit geraumer Zeit geht er nicht mehr zum Hahnenkampf, nicht mehr zum Fischen und beschäftigt sich nur noch selten mit seinen Brieftauben. Er hat doch genügend Ablenkung in seinem Heim! Jedenfalls hat er keinen Flirt mit einer anderen Frau. Er weiß auch sehr gut, dass er der Einzige ist, der von seiner Angetrauten geliebt wird. Amelie ist glücklich und sie erwarten von der Zukunft nichts sonst. Rundherum gibt es viele schlechte Frauen, denen es Spaß machen würde, in ein fremdes Heim einzudringen. Über solche Hündinnen ist Amelie stets erschrocken. Solche dunklen Gedanken soll Amelie aus dem Kopf verbannen! Schwarze Vögel lauern immer auf dem Dach, und es gibt keine Möglichkeit, sie von dort zu verscheuchen.
Glaubt der Vater, dass ihr Mann sie liebt? Wenn er sich nicht sicher wäre, würde ihn dies beunruhigen und er könnte sich an nichts sonst erfreuen. Tatsächlich liebt er sie von ganzem Herzen. Ja, er ist immer nett und freundlich zu ihr. Zu lieben und geliebt zu werden, ist das nicht herrlich? Was wäre sonst noch erforderlich, um voll auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen. Der Vater weiß doch ganz genau, dass sie zittert und ihr Herz klopft, wenn er nicht anwesend ist. Wenn er kommt und sie an sich drückt, ist es wie ein Licht, das in sie hineinflutet. Es ist Freunde, es ist Sonnenschein und Glücklichsein.
Wann wird Pierre aufhören, diese üblen Lieder zu singen, die das Volk hinter ihn bringen sollen? Sie stören das gemeinsame Glücklichsein. Sie möchte mehr Stunden am Tage haben, um ihn zu sehen. Das Tageslicht kann die schwarzen Wolken nicht verscheuchen, wenn sie an die Zukunft denkt. Die Tochter soll doch um Gottes Willen versuchen, sich zu beruhigen! Der Wind wird die Lieder eines Tages alle hinwegtragen. Ein guter Gott interveniert und leise kommt der Friede zurück.
Amelie schaut aus dem Fenster. Sie sieht Pierre des Weges kommen, gefolgt von einigen Leuten.
Dritte Szene:
„Hier geht es lang, Kameraden! Zu unserer Diskussion wollen wir es uns gemütlich machen!“ Die Stühle sind ein bisschen hart, aber die Kumpel sind es so gewohnt. Zusammen wollen sie ein Gläschen trinken. „Ist noch etwas Gin im Haus?“ „Nein, kein Gin, aber ein Fass Bier ist soeben angekommen.“ Papa wird es zapfen und getrunken wird es mit frischer Schaumkrone. Die Bosse geben sich schwerhörig. Alle Klagen gehen in den Wind und das Elend kümmert sie wenig. Um diesen Zustand zu ändern, haben alle den gleichen Weg vor sich. Die Streikunwilligen haben die Aufbegehrenden gestern ausgelacht, als diese beschlossen, nun endlich etwas zu unternehmen und Druck zu geben. Man war sich wieder seiner selbst! Oder ist einer hier, der wieder in die Minen zurückkehren möchte? Sollen die Kumpels sich abmühen, damit die Reichen immer fetter werden? Lasst uns erneut unser Lied singen!
„Jetzt, meine Freunde, hört ihr eine neue Serenade", meldet sich Pierre zu Wort. Eigens für seine Kumpels hat er sie komponiert. Sie sollen zuhören und dann in den Refrain einstimmen. Das dunkle schwarze Gefängnis im Innern der Erde soll nicht länger ihr Aufenthaltsort sein. Dort herrscht die Furcht vor Gefahr und dem Feuerdampf. Wenn die Streikbrecher, die rechts und links zu sehen sein werden, es wagen sollten, sie zu höhnen, werden die Visagen der Zaghaften und Feiglinge eingeschlagen! Nur so verschafft man sich Respekt!
Unser Leben ist das Schlimmste auf der Welt! Am Sonntag denken wir immer schon mit Schrecken an den Montag. Die Aufforderung, zur Arbeit zu kommen, haben wir zu befolgen. Schwerfällig wuchten wir den Körper aus unseren Betten. Vom Vater wird es auf den Sohn vererbt und von der Mutter geht es auf die Tochter, dass wir verdammt sind, in der Mine unseren kärglichen Lohn zu verdienen. „Oh, oh“ stöhnt der Chor bestätigend und anpassungswillig. „Das ist es, was unser Leben gleich macht.“
Nun bekommt Pierre aber Opposition: Es sei alles gut und schön; es mache Spaß, fleißig zu lamentieren, aber letzten Endes wird man sich den Angeschmierten wieder zugesellen müssen. Es gibt niemanden, der den Kumpels den rechten Weg zeigt. In der Tat brauchen sie einen Führer, der ihnen sagt, was zu tun ist. Die Funken müssen fliegen und das Dach soll zum Einstürzen gebracht werden. „So ist es! Wir brauchen einen Führer, der uns mit starker Hand den Weg weist“, rufen plötzlich alle. Pierre sei der richtige Mann, er soll der Kapitän sein, den sie benötigen. Nun hat Pierre den Refrain auf seine Serenade bekommen! Er akzeptiert den Vorschlag und bedankt sich artig. Er sei ihr Mann, und wenn er an der Verantwortung noch so schwer tragen wird – um so besser! Er wird der Kopf des Aufstands sein, der Arm und die Aktion in Person. Der Erwählte schlägt vor, auf Einigkeit und Loyalität einen Eid zu schwören. Den Wortlaut hat Pierre sich seit langem überlegt:
Auf all das, was sie lieben auf der Welt, die Eltern, die Frauen, die Kinder und – nicht zu vergessen - die Schatten der Ahnen, sowie auf die Soldaten, die für das Land starben, und auf das Kreuz und den Mann, der die Passion durchlitt, soll der Eid abgelegt werden. Man schwört gleich Brüdern in geschlossener Einigkeit zu verharren und im Angesicht des Unglücks nicht zurückzuweichen. Der Triumph wird sich einstellen, sobald der Moment gekommen ist!
Nachdem die Brüder nun den heiligen Eid geschworen haben, soll Christus, der sie hört, seine Hand ausstrecken und ihre Aktion protegieren. Ihre Rechte soll er verteidigen, denn ihre Hoffnung liegt auf dem Kreuz. Der Chor ergänzt noch, dass aller braven Minenarbeiter, die bei der Aktion sterben, besonders gedacht werden soll.
Vierte Szene:
Hat Pierre sich nicht doch ein bisschen zu viel vorgenommen? Welche Affäre, welches Problem, guter Gott? Welches Malheur? Er sieht schwarz für sein kleines Häuschen und sein süßes Weibchen. Er strolcht mit den Männern herum. Sie schleifen ihn ins Café – dort wird geraucht, der Qualm steigt auf und er schließt die Augen. Chaos im Kopf und der Magen dreht sich um. Draußen nieselt es und der Küchenherd ist eiskalt. Wenn er doch nur ein bisschen schlafen könnte!
Aber er wird nicht aufgehen. Den Weg, der vor ihm liegt, geht er zu Ende. Er wird tun, was die Kumpels von ihm erwarten. Oh, wenn wir nur gewinnen werden! Das arrogante Pack müssen wir niederdrücken und die Situation zu unseren Gunsten wenden. Recht und Verdammnis liegen in den falschen Händen. Wir schuften uns noch zu Tode. Visionen von Blut, Tod und Schrecken steigen in ihm hoch. Das ist es nicht, was er wünscht. Die bösen Geister, die ihn plagen, sollen ihn in Ruhe lassen. Er möchte jetzt in Ruhe ein bisschen schlafen.
Fünfte Szene:
Daraus wird nichts. Er spricht im Schlaf und voller Unruhe wälzt er sich hin und her, so dass Amelie ihn weckt. Pierre bedankt sich, dass sie seinen Traum von Blut und Tod endlich beendet hat. Sein neues Amt mache ihm zu schaffen und er bittet seine Frau, ihn allein zu lassen, weil er mit sich selbst klar kommen muss. Amelie möchte aber gern bleiben und an seiner Seite liegen. Er soll sich an sie schmiegen, allen Kummer vergessen und das Glück von ihren Lippen trinken. Er sagt, dass er sie liebt und sie soll seinem Herzen zuvor von Liebe singen.
„Amoûr, doûce blèsseûre!
Amoûr, djôye èt låmes, aprèssante wapeûr qui …"
Pierre fällt ein, und tatsächlich folgt jetzt ein Liebesduett in wallonischer Sprache. Liebe, die süße Wunde – Liebe: Freude und Tränen! Gebieterisch übernimmt sie die Herrschaft über die Seelen. Die Gefühle umarmen sich in süßer Harmonie. Jetzt wollen sie gehen und auf den Blumen des Paradieses schlafen. Einander zu lieben ist Glückseligkeit. „À vosse boke si rôzêye, dji beûrè-st-à plêzîr ..." - An ihrem rosigen Mund will er sich erquicken, wenn sie ihn mit heißen Küssen bedeckt. Die Liebe soll kommen und ihre Herzen entflammen. Er kann ihr Herz schlagen hören.
Der Opernbesucher spitzt überrascht die Ohren, denn soviel Poesie hatte er in der kleinen Hütte eines wallonischen Bergarbeiters nicht vermutet. Plötzlich ertönt ein Hornruf. Pierre springt abrupt auf, denn die Realität hat ihn wieder eingeholt. Amelie ist bestürzt. Was ist los? Auf Wiedersehen, liebes Weib, ich muss jetzt zu den Kumpels gehen. Wohin geht er? Er muss jetzt weg, um sich seinen Brüdern anzuschließen. Können diese nichts mehr ohne ihn regeln? Unser gemeinsamer Moment der Freude war zu kurz. Er habe hier schon zu lange verweilt, sagt er. Die anderen warten auf ihn, weil sie ihn brauchen. Er soll doch noch ein bisschen länger bleiben, damit sie sich noch ein wenig aneinander erfreuen können. Ist das nicht auch sein Wunsch? Sein Platz ist an der Seite seiner Männer. Nie wird die Liebste ihn an der Seite von Feiglingen finden. Sie soll dem Refrain lauschen. „Auf geht es mit dem Streik der Minenarbeiter, den armen Unterdrückten und Außenseitern!“
Sechste Szene:
Wer wird seine liebe Frau und seinen Haushalt beschützen? Die Ehre sei die beste Protektion! „Auf Wiedersehen!“ „Oh Pierre, bitte bleibe!“ „ Assez! Adiu - Genug! Auf Wiedersehen!“
Er ist gegangen, er hat gesagt, dass er sie liebe. Welch eine Lüge! Liebe ist für ihn eine Aktion zum Spielen. Der Streik ist für ihn ein Vorwand, um zu verstecken, was er wirklich im Sinn hat. Sie ist sicher, dass eine andere Frau auf ihn wartet. Amelie seufzt und muss sich erst einmal hinsetzen.
Für ihre arme verwundete Seele gibt es keine Ruhe mehr. Zweifel, furchtbare Zweifel, verdunkeln ihre Gedanken. Sie fühlt sich allein und zum Leiden verurteilt. Von ihren farblosen Augenlidern fallen bittere Tränen. Auf diese Weise fällt auch der Regen auf tote Blumen. Welche Leiden, welche Tortur fühlt ihr armes Herz? Weshalb zweifelt sie an ihm? Weshalb seufzt sie aus tiefstem Herzen? Der Geliebte soll kommen und ihre Tränen trocknen. Mit seinen heißen Küssen soll er ihre Furcht vertreiben. O welche Zweifel! Grausame Liebe bringt sie durcheinander. Zweifel und Furcht wollen ihr Herz aufessen bis sie ihren letzten Atemzug tut. Ist sie zu endlosem Leiden verdammt? Mörder sollen Mitleid mit ihr haben und kommen und ihrem Leben ein Ende bereiten. O bitte, bitte, sie kann nicht länger so bitter leiden! Ihr Herz ist im Begriff, zu brechen. Torturen, wie Liebe und Hass zur gleichen Zeit, kann sie nicht ertragen. Sie kann ihm nicht vergeben, betet ihn aber gleichzeitig auch an. Sie kann sich nicht von ihm trennen.
Amelie muss diese schlimme Vorstellung fortjagen und sich an die Tage ihres Glücks erinnern. An dem Tag, als sie heirateten, schenkte er ihr ein Bouquet mit weißen Rosen und der Ehering hat sie für immer an ihn gebunden. Dieser Tag der Seligkeit ist nun entflohen. Aber wo auf der Welt ist er jetzt? Sie ruft nach ihm, vergeblich! Doch warum ist sie so langsam, wenn sie in Schmerz fast vergeht? Hört er die Stimme seines Weibes nicht mehr? Oh, Pierre! Die Dinge stehen schlecht. Sie fühlt sich elend, sie gesteht es! Sie weiß nichts mehr, sie sieht nichts mehr! In der Ferne hört sie Schreie, sie hört den Sturm und den Jubel der Bergarbeiter. Sie ist sich sicher, er ist unter ihnen und die andere ist bei ihm! Der Tag geht zu Ende und nun ist es Abend. Die Arbeit ist getan. Wird er zu seiner Frau zurückkehren? Nein, ein bösartiges Weib hat ihn behext und ihr sein Herz gestohlen. Liebe existiert nicht mehr, Eide wurden gebrochen und das Einzige was sie jetzt braucht, ist Vergeltung. Weinen für immer wird ihr Schicksal sein und vielleicht Befreiung geben - von ihm, von ihr, von allen Teufeln, von der Hölle. Tod für Amelie!
Soeben ist Pierre gekommen.
Siebente Szene:
Jakob scheint es, dass es keine schwarzen Schmetterlinge sind, sondern dass eine Schar schwarzer Krähen den Kopf seiner armen Tochter umkreist. Da gibt es nichts, was er dagegen tun könnte. Es geschieht von selbst, wie alles andere auch. Im Café sind die Minenarbeiter geteilter Meinung. Würde man versuchen, sich zu arrangieren, verstünde man einander besser. Alle schreien zur gleichen Zeit. Er verlässt den Tumult, weil ihn das alles zu sehr belastet. Die Dinge wenden sich zum Schlechten. Die Polizei steht einsatzbereit. Er hat das unbestimmt Gefühl, dass an diesem Tag noch furchtbare Dinge geschehen werden.
Sie zanken und sie zerren aneinander herum, wenn sie die funkelnden Schusswaffen sehen. Einige haben einen klaren Kopf behalten, aber ihre Courage hat versagt. Pierre schockiert sie und versucht, sie aufzuwecken. Es ist kein Geld hereingekommen. Er befürchtet, dass schon morgen der Eid, der Streik und der Konflikt vergessen sein werden und alles zur Nebensache abdreht. Die Stunde ist da, in welcher er in Aktion treten und zeigen wird, dass er der Kopf und der Arm der Bewegung ist. Ja, er muss es tun.
Amelie sieht, dass Pierre fortgehen will, und meutert, dass er zu dieser Zeit zu Hause zu sein habe. Die Situation spitzt sich zu, Pierre wird wütend. Er sei der Herr im Hause und nur auf seine Eingebung höre er und auf sonst niemanden. Wenn Pierre – wie er immer wieder sagt – sie liebt, wird er ihr zuhören! Was will sie ihm erzählen? Wenn Blut zu fließen hat, macht er sich keine Gedanken, welchen Weg es nimmt. Die schrecklichen Mittel, um die Aktion auszulösen, befinden sich in Reichweite. Er gehe jetzt, um sie zu holen.
Was sagt Pierre? Ist er noch bei Verstand? Was führt er im Schilde? Amelie zittert, sie kann ihre Füße nicht länger still halten. Sie beschwört Pierre, nicht aus dem Haus zu gehen.
Die Empörte soll ihn gehen lassen und ihn nicht anrühren! Hat sie das verstanden? Glaubt der unselige Mann, glaubt der Narr etwa, dass sie nicht weiß, was er unter seinen Kleidern versteckt hält? Sie weiß ganz genau, was er zu tun beabsichtigt. Sie wird die unvernünftige Aktion zu verhindern wissen und ihn zuvor abfangen. Pierre verlässt das Haus.
Die Geschichte nimmt ihren schlimmen Lauf. Die Polizei hat die meisten Aufmüpfigen eingesperrt. Die Gewehre der Beamten sind geladen und die Finger am Drücker. Einige Männer sind in das Haus ihres Anführers gekommen. Jakob sitzt teilnahmslos am Küchentisch und raucht seine Pfeife. Die Männer wollen wissen, ob Pierre zu Hause sei, oder, wenn er es nicht ist, wann er zurückkommen wird. Der Angesprochene hat hierzu keine Idee.
Die Kumpel sind verzagt, denn sie wissen, dass die Polizei kurzen Prozess macht. Es genügt ein kurzer Befehl. Sie bekommen die volle Ladung und werden fallen wie die Karnickel. Eine andere Gruppe besinnt sich, dass sie geschworen hat, auszuharren – komme was will. Dann gibt es noch die ganz Mutigen, welche die anderen auffordern, die Axt oder die Hacke zur Hand zu nehmen, um die eigene Haut zu verteidigen. Ja, tapfer und leidenschaftlich wollen sie kämpfen bis zum Umfallen. Hieb um Hieb werden sie austeilen - eine Gewehrsalve folgt auf die andere. Stolze und starrköpfige Wallonen sind sie! Wäre es nicht doch besser, in Ruhe abzuwarten?
Trotz allem tut es Jakob leid, nicht mehr in der Lage zu sein, mit ihnen zu gehen. Er bewundert ihre Courage. Gut, er will verdammt sein, wenn es sich nicht so verhält, dass sie den Tod gehen wie zu einem Dorffest. Möge Gott sie beschützen. Pierre tritt ein, schaut nervös umher und gesellt sich zu seinem Schwiegervater.
Es ist getan, auf der Fensterbank des Werkführers hat er die Bombe platziert. Niemand hat ihn gesehen! Er hat den Fußweg benutzt, der quer durch die Felder führt. Wo ist Amelie? Er schaut in der Wohnung überall nach ihr. Die Bergleute verteidigen sein Handeln. Es war ein Schlagabtausch. Ein wuchtiger Hieb gegen ständige Sklaverei. Heroisch hat er gehandelt. Starrköpfig sind sie, die Wallonen! Plötzlich hört man in der Ferne das Explodieren einer Bombe. Sieg? Nein, Desaster!
Jakob wehklagt zum Erbarmen: „Mèlye! mi feye! mi-èfant adôrêye... - Bist du es, die mir auf einer Bahre gebracht wird, verwundet und halbtot? Unglücklicher Mann, der ich bin! Namenloser Schrecken! Hat Gott das unselige Geschehen überhaupt mitbekommen? Gewiss nicht! Es kann nicht wahr sein! Ich träume!“ Amelie soll die Augen öffnen und ihm zuhören. Ihrem alten Vater soll sie ein Lächeln schenken! Sie soll doch bitte etwas sagen.
Amelie hebt die Lider. Sie kann ihn sehen, aber sie muss ihn jetzt verlassen. Es ist Gottes Wille. Sie stirbt für ihn, ihren geliebten und angebeteten Mann. Für ihn zu sterben sei ein Geschenk des Herrn. Ihre Schwestern und ihre Freunde sollen bei der Polizei sicherstellen, dass sie es war, welche das Attentat verübte. Zu Pierre sagt sie leise, dass sie zu spät kam, um die Bombe unschädlich zu machen. Engel nähern sich, um sie ins Paradies zu holen. Verzückt scheidet Amelie aus dem Leben. Ein Mönch tritt auf und erklärt, dass der Herr die Märtyrerin zu sich geholt hat. Theologische Betrachtungen bemächtigen sich des Chors. "Hosanna, Hosanna, Glwére å Très-hôt!"
Pierre darf sich als letzter äußern: „Tot, tot, das angebetete Weib! Gestern noch so rosig und nun blass und leblos. Tod für sie – Leben für mich, den Mörder all ihrer Liebe, der ihren Haushalt durcheinander gebracht hat sowie ihr Glück! Miserabler Dummkopf!“
Jetzt ist Buße angesagt. Pierre wird den Schwiegervater und sein Heim verlassen und in einem entfernten dunklen Kloster Zuflucht suchen, in dem die heiligen Brüder ihm den richtigen Weg zeigen.
Anmerkung:
Aus Berufung fühlte Eugène Ysaÿe sich der Violine verpflichtet und komponierte neben etlichen Sonaten vornehmlich kleinere Stücke für den eigenen Bedarf.
Doch ein Ereignis, welches die Tagespresse im Jahre 1877 meldete, ließ ihn ein Leben lang nicht mehr los. Eine junge Frau hatte versucht, eine Bombe zu entschärfen, die ihr im Bergbau beschäftigter Ehemann seinem Vorgesetzten auf die Fensterbank gelegt hatte. Das Attentat kann die Opferbereite zwar verhindern, stirbt aber an den schweren Verletzungen, denn die Bombe explodierte in ihren Händen.
Ursprünglich selbst aus schwachen sozialen Verhältnissen stammend, ist Eugène von Mitgefühl überwältigt und beschließt, Ereignisse und soziale Hintergründe zu einer Oper zusammenzufassen. Bei dem guten Vorsatz bleibt es zunächst; ein paar Notizen in französischer Sprache werden wieder zur Seite gelegt, denn eine Karriere als gefeierter Violinvirtuose hat Vorrang.
Die Wende bringt die Übersiedlung in die Vereinigten Staaten. Den Belgier erreicht 1918 der ehrenvolle Ruf, das Cincinatti Symphony Orchestra zu leiten - eine Position, die Ysaÿe bis 1922 innehat. Offenbar ist es die Erinnerung an die Heimat, die ihn verleitet, sich „Piére li houyeû“ wieder zuzuwenden. Es entsteht das Libretto zunächst in französischer Sprache, aber von Musik ist außer ein paar Notizen noch keine Spur. Die Blätter werden im Königlichen Konservatorium in Lüttich aufgehoben. Erst 1929 werden auf St. Tropez die ersten Noten, nun auf den wallonischen Text, komponiert. Dann geht alles wahnsinnig schnell. Es ist ein Wettlauf mit dem Tod. Die Orchesterpartitur enthält das Datum vom 20. März 1930, die Proben beginnen im Februar des folgenden Jahres. Königin Elisabeth, seine Schülerin, nimmt regen Anteil und ist bei der Premiere am 4. März 1931 an der Oper in Lüttich zugegen. Die Cousine des Komponisten, Yvonne Ysaÿe, singt die weibliche Hauptpartie, die Tenorpartie wird von Alfred Legrand übernommen, während Jacques Jeanotte die Rolle des alten Vaters darstellt. Die erste Oper in wallonischer Sprache erblickt das Licht der Welt
Aus gesundheitlichen Gründen ist der Komponist bei der Uraufführung nicht zugegen, kann die Oper aber am Rundfunk mitverfolgen und den triumphalen Applaus genießen. Die festliche Premiere am Brüsseler Théâtre royal de la Monnaie findet am 25. April 1931 statt. Auf einer Tragliege wurde der Schöpfer des Werkes in seine Loge gebracht und kann sich noch erheben, um sein Publikum zu grüßen. Siebzehn Tage später hauchte er sein Leben aus.
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musirony 2009 - Engelbert Hellen