Riccardo Drigo verließ schon in jungen Jahren seine Geburtsstadt Padua und fand seine künstlerische Heimat in Russland. Als Dirigent und Komponist ließ er sich in St. Petersburg nieder und geriet in den Dunstkreis des „Mächtigen Häufleins“ sowie in die Nähe von Peter Tschaikowski und seinen Leibchoreographen Marius Petipa. Des Italieners große Leidenschaft gehörted em Ballett. Er schuf fünf eigene Werke dieser Gattung und arrangierte die Musik fremder Tonsetzer, was das Zeug hielt. Oft dirigierte er ‚Schwanensee’ und ‚Dornröschen’, blieb aber als Komponist eigenständig und wurde kein Epigone Tschaikowskys. Er hatte es auch nicht nötig, Ludwig Minkus oder seinen Landsmann Cesare Pugni zu kopieren – dafür war das eigene schöpferische Potential zu hoch angesetzt. Vergleiche mit der parfümierten Süße der Musik Massenes bieten sich an, doch wo Massenet versucht, sich sanft einzuschmeicheln, schäumt Drigos Temperament über. Acteons Solo, eingebettet in den Pas de deux mit Diana, ist jedes Mal ein Sturmangriff auf das Gemüt und die musikalische Hingabe des Hörers.
Was ist aus der Walzerseligkeit Drigos geworden? Im Gegensatz zu Massenet hat die Musikgeschichte bis in die Gegenwart hinein ihr hartes Urteil gesprochen. Man weiß nicht einmal mehr, ob das Ballett ‚Diana und Acteon’ jemals fertiggestellt wurde. Über die Daten einer Uraufführung hüllt die Musikgeschichte sich in Schweigen, über Bühnenausstattung und Choreographie gibt es keine Aufzeichnungen. Als Appetithäppchen gefragt, ist das Fragment möglicherweise in Ballettmusiken fremder Musiker aufgegangen. Unwillkürlich denkt man an Pugnis ‚La Esmeralda, obwohl der literarische Hintergrund überhaupt nicht passt. Das macht aber nichts, denn in Fragen der Werktreue war man schon immer unbekümmert.
Trotzdem soll kurz angedeutet werden, welche Bewandtnis es mit den mythologischen Akteuren hatte. Wie aus anderen Bühnenwerken bekannt, befasst sich die Göttin Diana nicht nur mit der Jagd, sondern spielt auch als Hüterin der Keuschheit eine Rolle. Ihren Gefährtinnen hat sie verboten, Kontakt mit Mitgliedern des anderen Geschlechts aufzunehmen, andernfalls drohen heftige Sanktionen. Nun will es das Schicksal, dass der Jäger Acteon sich nach der Jagd im Wald verläuft und ausgerechnet an die Quelle gerät, in der Diana mit ihren Gespielinnen badet. Der Spanner wird von der Mädchengesellschaft aufgegriffen und ihrer Herrin vorgeführt. Diese verliebt sich unverzüglich in den stattlichen Jäger und tanzt einen Pas de deux mit ihm. Exakt dieser Teil des Balletts ist zur Freude der Nachwelt über die vorhandene Partitur überliefert. Die Bedrängte trippelt weg, jedoch mit seinen kraftvollen Sprüngen holt Acteon sie immer wieder ein, umschließt sie mit seinen Armen oder schwingt sie durch die Luft. Die Göttin, dem unverhofften Partner sofort leidenschaftlich zugetan, ist ratlos wie sie reagieren soll. Es kann nicht angehen, dass sie selbst Liebesfreuden akzeptiert, die sie bei ihren Gefährtinnen unter Strafe stellt. Also muss Acteon trotz Protest und dem Argument, nur aus Versehen Diana beim Baden nackt gesehen zu haben, ins Verderben gestürzt werden. Wie leicht könnte es geschehen, dass Acteon sein Erlebnis ausplaudert. Der gute Ruf einer keuschen Göttin wäre dann zum Hades. Also wird gehandelt. Den erwartungsvollen Jüngling verwandelt die Unbesonnene in einen Hirsch und lässt ihn seines Weges laufen. Die Jagdgesellschaft erkennt den Verwandelten nicht und von den eigenen Hunden wird Acteon zerrissen. Auf der Bühne kommt es zu diesem Unglück aber nicht, weil das Finale entweder verloren ist oder nie komponiert wurde.
Den Wert dieses kleinen Musikwerkes hat die Nachwelt inzwischen erkannt. Das Häppchen wurde liebevoll inszeniert und als YOUTUBE – technisch passabel - ist der Pas de deux, eingerahmt von einem Ballettcorps, zu goutieren. Es tanzen mit Bravour Tezana Terekhova und Sergej Berezhnoi in Dekoration und Flitter. Das Nationalballett Kuba hat sich in Anlehnung an den ehemaligen großen Bruder Sowjet-Union des Sketsches ebenfalls bemächtigt und Cecilia Figaredo und José Carreño bringen ihre Tanzkunst enthusiastisch zum Einsatz.
Doch erst seitdem Carlos Acosta sich mit dem tragischen Helden identifiziert, wird die Medienwelt auf den Kubaner aufmerksam. Durch die Kraft seiner Sprünge - animalisch und wild - der Geschwindigkeit seiner Wendungen und der virtuosen Artistik seiner Figuren, nicht zuletzt durch sein außergewöhnliches Charisma, eroberte der Akteur sich mit seiner Partnerin Lorna Feigoo die Herzen seiner Bewunderer. Carlos ist ganz Acteon!
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musirony 2009 - Engelbert Hellen