HANDLUNG
Erster Akt:
Giselle, immer adrett angezogen, ist das hübscheste Mädchens des Dorfes. Deshalb wird sie von zwei jungen Männern umworben, die in Liebe zu ihr entbrannt sind. Da ist zunächst der Wildhüter Hilarion, der es ernst meint und mächtig eifersüchtig auf seinen Nebenbuhler Loys ist, welcher die Kleine für sich haben möchte. Unter einfacher bäuerlicher Kleidung versteckt sich allerdings Herzog Albrecht, der getarnt auftreten muss, weil er mit Bathilde der Prinzessin von Kurland verlobt ist und sich in aller Öffentlichkeit keine Liebschaften mit einem einfachen Mädchen aus dem Volk erlauben kann.
Bei Dorfmädchen steht Treue allgemein hoch im Kurs. Es ist Sitte, dass Verehrer, welche die Gunst eines Mädchens errungen haben, Treue geloben müssen, weil ehrliche Absicht wirtschaftlichen Wohlstand garantiert. Ohne Treue – keine Liebe! Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass Treue gebrochen wird, insbesondere wenn Adelige und Bürgerliche sich in Liebe zueinander finden. Geht die Verbindung in die Brüche, hat der sozial schwächere Teil im Besitz des gebrochenen Gelöbnisses in jedem Fall ein handfestes Motiv für einen spektakulären Suizid.
Giselles Mutter Bertha kennt die Mechanismen. Ihr schwant Unheil und deshalb erzählt sie ihrer Tochter fürsorglich von den Wilis. Das sind Mädchen, die aus Gram gestorben sind, weil ihr Liebster sie vorsätzlich hintergangen und sitzen gelassen hat. Danach sind sie verflucht, als unerlöste Seelen immerzu in alle Ewigkeit bis zur Erschöpfung tanzen zu müssen.
Den Geistwesen hat die Vorsehung die Möglichkeit der Rache eingeräumt. Bei Vollzug treten sie in Gruppen auf, klopfen ans Schlafzimmerfenster, holen den ehemaligen Liebsten gegen Mitternacht aus dem Bett, um ihm die Hohe Kunst des Tanzens beizubringen. Der Treulose folgt einem unwiderstehlichen Drang, kann aber das Tempo und die vielen Drehungen um die eigene Achse nicht durchhalten und wird in den Ententeich gezerrt, wo er jämmerlich ertrinkt.
Nicht nur die Mutter, auch das Blumenorakel warnt vor voreiligen Herzensbindungen. Leichtsinnig schlägt Giselle die Liebeswerbung des Wildhüters in den Wind, obwohl er mit gesichertem Arbeitsplatz eigentlich eine angemessene Partie wäre. Der Störenfried wird von Giselle fortgeschickt, was dieser mit Missbilligung quittiert.
Die Gegend ist sehr wildreich, was den Herzog von Kurland veranlasst hat, als Gast des Herzogs sein Jagdquartier in der Gegend aufzuschlagen. Seine Tochter Bathilde, dem Herzog zum ewigen Bündnis versprochen, gehört auch zur Jagdgesellschaft. Diese ahnt nicht, dass ihr Albrecht sich gerade auf Abwegen befindet. Der Dorfschönen schenkt sie sogar ein Halsband und bedankt sich für den Lustgewinn, den ihre Tanzkünste ihr bereitet haben.
Hilarion jedoch lässt sich nicht verdummen und wahrt seine Interessen. Er klärt Giselle auf, wer der lausige Loysl wirklich ist, denn er hat den Degen des Herzogs gefunden und hält ihn als Beweis für Lüge und Trug der Überraschten unter die Nase.
Albrechts Verrat erreicht seinen Höhepunkt, indem er erklärt, er habe bei der Landbevölkerung nur ein bisschen Zerstreuung gesucht. Er tut so, als ob er Giselle nicht kenne und reicht Bathilde den Arm, in der Absicht mit ihr den festlich geschmückten Dorfplatz zu verlassen.
Für Giselle ist die Kränkung zu viel; sie fällt aus dem Himmel ihrer Träume. Um sich abzureagieren fängt sie an, wie wild zu tanzen ohne an ihren überreizten Blindarm zu denken. Ja, in ihrer Verbissenheit geht sie sogar soweit und greift sich Albrechts Degen. Mit beiden Händen stößt sie ihn sich in das verwundete Herz. Nur um den Geliebten zu ärgern, haucht sie aus Bosheit ihr Leben aus. Der windige Albrecht bekommt die Quittung zu spüren, aber erst im zweiten Akt. Im Moment ist er wegen des frischen Leichnams ein wenig irritiert, weil ein wertvoller Teil seiner Freizeitzerstreuung unverhofft eine Einbuße erlitten hat.
Zweiter Akt:
Hilarion ist ebenso furchtsam wie neugierig. Um Mitternacht hat er sich hinter Bäumen in der Nähe von Giselles Grab versteckt. Er möchte studieren, wie Wilis unter sich gesellschaftlich miteinander verkehren. Zuerst erscheint die Geisterkönigin, um mit einem Zweig die vielen Buschwindröschen zu berühren. Tagsüber waren die Wilis darin eingefroren und werden nun, nachdem die Königin einzelne Wildpflanzen angetippt hat, putzmunter. Es gilt eine neue Kollegin zu begrüßen. Giselle steigt verschleiert aus ihrem Grab, um sich vor Königin Myrtha zu verneigen. Danach bietet sich ausgiebig Gelegenheit, ihrer Tanzleidenschaft zu frönen.
Gestiefelte Menschenschritte weichen den Waldboden auf. Albrecht naht, hat zuvor in der Friedhofsgärtnerei weiße Lilien gekauft, um diese nun – von der Öffentlichkeit unbemerkt – auf Giselles Grab zu legen. Offenbar saß die Liebe doch ein bisschen tiefer. In jedem Fall sollte die landläufige Meinung über leichtfertige Adelige, wie der Opernbesucher sie vom Herzog aus Mantua kennt, geringfügig korrigiert werden.
Urplötzlich schwebt das Ebenbild Giselles heran und lockt den Verräter in den finsteren Wald. Endlich hat die Gedemütigte den Räuber ihrer Ehre fest am Wickel. Der einfältige Hilarion verlässt unvorsichtigerweise sein Versteck und wird sogleich von Wilis wie von einem Bienenschwarm eingekreist. Die Geistwesen fragen erst nicht lange nach Schuld oder Unschuld. Hilarion bekommt Tanzunterricht und bleibt dabei auf der Strecke. Um Albrecht kümmert sich die Königin der Wilis selbst. Myrtha befiehlt, zuerst das Tempo zu verdoppeln und dann auf Rammgeschwindigkeit zu erhöhen. Doch Giselle hat Mitleid mit ihrem Verführer. Sie reißt das Kreuz aus ihrem Grab, um den Erschöpften jedes Mal zu stützen, wenn er droht, zusammenzubrechen. Die Königin bleibt eiskalt und man darf nur zu hoffen, dass Albrecht bis zum ersten Hahnenschrei durchhält. Die ersten Sonnenstrahlen vertreiben die Spukgestalten der Nacht; auch Giselle muss ihnen folgen. Es gleicht einem Wunder, das Albrecht noch lebt. Der Ballettbesucher darf hoffen, dass der Herzog zukünftig Orte meiden wird, die ihm gefährlich werden könnten. Sein Erlebnis mit den Wilis kann ihm aber niemand nehmen.
Anmerkungen:
Der Triumph, den Giselle bei der Uraufführung erzielte, war unvergleichlich. Es stimmte einfach alles, das tiefromantisch empfundene Libretto, die Choreographie, die grandiose tänzerische Leistung der Grisi und der Geniestreich von Adolph Adam. Innerhalb einer Woche hatte er die Partitur vollendet, ohne irgendwelche Anleihen bei der Folklore oder anderen Tonschöpfern gemacht zu haben. Seit ihrer Entstehung haben alle berühmten Ballerinen es sich nicht nehmen lassen, die Giselle zu tanzen. Ob es die Grisi, die Elßler oder die Taglioni in älterer Zeit waren oder im vergangenen Jahrhundert die Pawlowa, die Ulanowa oder die Fonteyn der Partie ihre Persönlichkeit aufzwangen, die prägnante Musik, die der Entwicklung der Handlung mit eingängigen Rhythmen exakt folgt, ruft unwiderruflich das Entzücken des Ballettbesuchers hervor. Man kann sagen, dass Adams „Giselle“ den Höhepunkt der klassischer abendländischer Ballettkunst ausdrückt.
Richard Wagner und Heinrich Heine haben das Ballett nicht gefallen. Ihre Missgunst formulierten sie allerdings sehr behutsam.
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musirony 2007 - Engelbert Hellen