Keineswegs ist Jean Cocteau zu tadeln, weil er seinem Freund Darius Milhaud das Manuskript weggenommen hat, um die geplante Filmmusik zu einem Ballett zu verformen. Das Szenario hat das Enfant terrible in eine vornehmtuende kleine amerikanischen Bar verlegt. Formell wirbt diese für surrealistisches Cabaret - der angebotenen Surrealismus bewegt sich allerdings in bescheidenen Grenzen. Der Ochse, der auf das Dach steigen soll, tritt gar nicht auf - so wie seinerzeit der „Blaue Zug“ niemals ankam. Alles Bluff!
Was geschieht nun wirklich im „surrealistischen Cabaret“? Die Gäste sitzen an kleinen runden Tischen und plaudern oder rauchen. Das Protokoll der Uraufführung vermerkt, dass ich unter ihnen ein Boxer, ein dunkelhäutiger Liliputaner, eine maskulin wirkende Dame, ein Schneider, ein Buchmacher und ein Liebesmädchen befinden. Die kleine Hauskappelle spielt das Opus 58 von Darius Milhaud.
Ein aufgeblasener Kellner schüttet aus einer Riesenflasche, die er mit einem gewaltigen Korkenzieher geöffnet hat, Cocktails in die Gläser der Gäste. Alle haben Konsumhaltung eingenommen und warten, dass der lila angestrahlte Rüschenvorhang der klitzekleinen Bühne sich hebt und die Vorführung beginnt.
Zuerst erscheint ein Wunderknabe, der Geige spielt. Das Kind ist ungezogen, denn es streckt dem Publikum die Zunge heraus. Nach beendetem Auftritt greift sich der Impresario den Knirps und hebt ihn ganz hoch, damit alle das Prachtkerlchen bewundern können.
Der Vorhang geht herunter und sofort wieder hoch. Eine aus drei Personen bestehende Damenkapelle spielt auf Holzblasinstrumenten. Ein paar Faxen gehören zum Auftritt. Bestimmt zählt die Besucherin im Vordergrund mit weißen Turban und im resedagrünen Kostüm zur feinen Gesellschaft.
Zum nächsten Szenenwechsel wird zur Musik ein bisschen Akrobatik geboten. Der Artist balanciert sein Streichinstrument auch mit den Füßen und kost zwischendurch mit seiner ebenfalls musizierenden Assistentin. Die Gäste sind fasziniert und klatschen Beifall.
Mit weit ausgestreckten Armen und in einer Hand die monumentale Flasche haltend, rennt der „Ochse“ von Kellner zwischen den Tischen herum und schenkt großzügig ein.
Inzwischen hat eine Kontrabassvirtuosin – ihre Haarpracht hat sie auf eine Seite verlagert - auf ihrem Sitz platzgenommen. Gelassen streicht die Musikerin mit einem Bogen die Saiten des gewaltigen Instrumentes, welches zwischen ihren hohen Stöckelabsätzen viel Platz beansprucht oder zupft es mit spitzen Fingern.
Ein Zwischenfall tritt ein. Ein Ordnungshüter mit bedrohlich wirkenden Säbel erscheint, um die Gewerbelizenz zu überprüfen. O Schreck, das Etablissement darf Alkohol gar nicht ausschenken, denn es ist der Behörde nur als Milchbar gemeldet.
Anmerkung:
Nach Beendigung seiner diplomatischen Dienste als Sekretär des Botschafters und Dichters Paul Claudel verließ Darius Milhaud Südamerika und ließ sich in Paris nieder. Hier besann er sich auf jenen schwungvollen Rhythmus, den er im Umgang mit Einheimischen in Rio vernommen hatte. Der Klang wollte aus dem Ohr nicht weichen und haftete als unwillkommene Erinnerung im Gemüt. Schließlich beschloss er, den Sketsch in Rondoform zu gießen, um das Thema als Untermalung zu einem Charlie-Chaplin-Film zu verwerten.
Sein Vorhaben hätte er aber nicht seinem Freund Jean Cocteau erzählen dürfen, denn dieser griff sich den Ulk, um ihn ohne Erlaubnis zu einem Ballett auszuwalzen. Ohne sich zu verändern oder eine Entwicklung durchzumachen, wiederholte sich der alberne Rhythmus 17 mal hintereinander. In Paris pfiff man es auf allen Straßen und Darius Milhaud hatte das Gefühl, zur Witzfigur des Tages aufgestiegen zu sein. Tatsächlich dauert die „Kino-Symphonie über südamerikanische Themen“, nun zur Ballettmusik avanciert, etwa fünfzehn Minuten und endet so doof, wie sie begann.
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musirony 2009 - Engelbert Hellen