HANDLUNG
Erster Akt:
Hoch über den Dächern von Paris hat ein junger Maler auf einem Speicher sein Atelier eingerichtet. Aus dem Fenster genießt man den herrlichen Blick auf Seine-Metropole. Prunkstück der Einrichtung ist ein gusseiserner Stuhl mit verschnörkelt gearbeiteter Rückenlehne, die den Durchblick freigibt wie ein nicht ausgefüllter kreisrunder Bilderrahmen. Auf dem Stuhl hat das Modell, die Geliebte des Malers, sich in Positur gebracht. Heute ist sie misslaunig gestimmt und will nicht stillsitzen, so dass der Künstler mit seiner Arbeit nicht weiterkommt.
Zu allem Überfluss klopft die Hauswirtin an und lässt eine Schar lebhafter Mädchen herein, alle Freundinnen des Modells. Die Schar macht dem Maler schöne Augen und umschwärmt ihn, so dass seine gute Stimmung bald wiederkommt, aber seine Staffelei kann er wegräumen.
Auf der Fensterbank haben sich zwei Brieftauben niedergelassen, was die beiden Verliebten veranlasst, den „Pas de deux Pigeon“ zu tanzen. Das schwatzhafte Gurren der Vögel wird im Orchester von den Streichern parodiert. Der junge Mann ist im Begriff die weißen Tauben zu verscheuchen, bevor sie Dreck machen und sieht unten auf der Straße eine Gruppe von Zigeunern, die ihm zuwinken. Er winkt zurück, was als Einladung missverstanden wird und bald ist das Atelier mit Gitanos, vorzugsweise weiblichen Geschlechts, überfüllt. Die Mädchen besitzen Temperament und tanzen eine breit angelegte Variation. Die Führerin der Gruppe, eine rassige Carmen, hat es unserem Maler sofort angetan und beide beginnen einen Flirt. Frage- und Antwortspiel werden durch einen Pas de deux ausgedrückt. Die Zigeunerin lässt sich auf dem schönen Stuhl nieder, wodurch unser Modell sich provoziert fühlt. Beide Damen können sich nicht leiden und unbeherrscht stellen sie ihre Rivalität zur Schau. Ungezogen versucht das Model den Tanz der Rivalin zu parodieren. Der Anführer der Gesellschaft sieht, wie die Situation entgleitet. Nicht gastfreundlich behandelt, gibt er sich spöttisch und veranlasst seine Leute, die Biege zu machen. Der junge Maler, vernarrt in die Zigeunerin, hat nichts besseres zu tun, als der scheidenden Gesellschaft nachzulaufen. Die Geliebte bleibt betroffen zurück und die beiden Täubchen – auf das Fenstersims zurückgekehrt – sind ganz still geworden.
Zweiter Akt:
Der junge Mann hat die Wagenburg der Zigeuner gefunden und beabsichtigt, einen Gegenbesuch abzustatten. Von den Mädchen wird er freundlich behandelt, von den Männern argwöhnisch beäugt. Bald hat er seine Auserwählte gesichtet, die ihn willkommen heißt und einen Pas de deux mit ihm tanzt. Der Lover kommt hinzu, gibt sich energisch und widerwillig findet man zu einem Pas de trois zusammen. Es folgen eine Reihe weiterer Tänze, welche die fröhliche Stimmung im Quartier darlegen, darunter auch ein ungarischer Tanz. Für den jungen Mann steht ein Solo an, in welchem er seine Verzückung für seine neue Flamme zum Ausdruck bringt. Die Emotionen werden immer feindlicher und das Orchester tendiert zu einer Gewittermusik. Schließlich wird der Eindringling vom Anführer der Zigeuner am Handgelenk gepackt und des Geländes verwiesen. Das Liebesthema des ersten Satzes klingt auf und sieh da: Eines der Täubchen kommt angeflattert, setzt sich auf die Schulter des Betrübten, als ob es ihn nach Hause geleiten wolle.
SZENENWECHSEL
Ins Studio zurückgekehrt, findet er sein Mädchen traurig und allein. Das Täubchen sitzt noch immer auf seiner Schulter und zutraulich geworden, hebt er es auf den höchsten Punkt der Lehne seines schmucken Stuhles. Die einsetzende Musik variiert das Love-Thema und das Paar vereinigt sich in einem Pas de deux romantischer Versöhnung.
Zum Schluss sitzen beide händchenhaltend hinter dem Stuhl auf dem Boden, verabschieden sich vom Publikum und grüßen durch den dekorativen Rahmen der Lehne. Um das Glück der Liebenden und der Besucher abzurunden, kommt die zweite Taube angeflattert und findet ihren Platz einträchtig neben der ersten – ein hinreißendes Motiv für den Ballettphotografen.
Anmerkungen:
Dem Libretto liegt die Fabel von den beiden Tauben des Dichters La Fontaine zugrunde. Der Schauplatz der Urfassung zeigt ein Landgut in Thessalien des 18. Jahrhunderts. Der Seelenfriede von Goumuli ist gestört, weil ihr Freund Pépio auf Liebesabenteuer aus ist. Der Unbeständige trifft auf die Zigeunerin Djali, der er seine Zuneigung erklärt. Diese ist jedoch keine andere, als die verkleidete Goumuli, die sich diese List ausgedacht hat. Die Geschichte endet so, dass Pépio reumütig zu seinem Mädchen zurückkehrt, nachdem das Abenteuer für ihn zu anstrengend geworden ist. Messager suchte eine Variante zum Tschaikowsky-Ballett „Schwanensee“, welches ebenfalls eine Doppelrolle - Odile und Odette – beinhaltet. Die eine verkörpert das gute und die andere das negative Prinzip - eine reizvolle Aufgabe für jede Primaballerina!
Die revidierte Fassung von John Lanchbery verzichtet auf diesen Gag, ebenso auf die Individualisierung der beiden Paare und nennt sie nicht beim Namen. Die neue Version wurde von Sir Frederick Ashton an der Covent Garden Oper choreographiert und die Geschichte in die Bohéme nach Paris verlagert
Die zündende Musik zu Beginn des zweiten Aktes schildert das Zigeunerlager und ist besonders einprägsam. Ein “Danse hongrois“ darf natürlich nicht fehlen.
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musirony 2006 - Engelbert Hellen