Erster Teil - WALDMÄRCHEN
Die stolze Königin ist ebenso schön wie launisch. Einen Gemahl hat sie noch nicht. Lässt sie ihre Verehrer aus Freude am sadistischen Spielchen nur zappeln oder ist sie dem männlichen Geschlecht grundsätzlich abhold? Die Untertanen fragen sich, wem sie eines Tages ihre Gunst schenken wird. Die Konditionen, die sie den Brautwerbern stellt, sind kindisch. Irgendwo im Wald hat sie einstmals eine rote Blume ausfindig gemacht. Klatschmohn kann es nicht gewesen sein, denn die Blume soll genau so schön gewesen sein wie sie selbst. Nun mutet sie der edlen Ritterschaft zu, nach dieser Blume intensiv zu fahnden. Dem edlen Finder wird sie die Hand zum Ehebunde reichen. Das Interesse an der dümmlichen Königin lässt gewaltig nach, denn im Lied ist nur von zwei Brüdern die Rede, die sich auf den Waldweg machen, um nach dem seltenen Kraut Ausschau zu halten. Der Jüngere der beiden ist von edlem Charakter und guten Mutes, dem anderen fehlt es an Geduld. Vom Chor muss er ständig ermahnt werden, das Fluchen sein zu lassen. Ein vernünftiger Entschluss bewirkt, dass die beiden Ritter sich trennen und jeder allein nach der Blume sucht.
Der Kleinere mit dem angenehmen Charakter hat die glorreiche Idee, nicht nur im Wald, sondern auch auf der Heide Ausschau zu halten. Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein und das heißt Erika. Es ist zwar nicht knallrot, aber wer kann schon wissen, welche Farbe die Königin für Rot hält.
Er steckt sich ein Büschel von dem Kraut an den Hut und legt sich ins Moos, um ein wenig zu ruhen - die Füße tun ihm weh. Der andere, der in Unrast den ganzen Tag vergeblich gesucht hat, findet Brüderlein schlafend am Waldrand. Sofort sieht er rot, als er die Blume gewahrt, welche der erfolgreiche Konkurrent sich unter die grüne Hutschnur gesteckt hat. Missgunst übermannt ihn. Die wonnige Nachtigall, weshalb schlägt sie nicht? Das Rotkehlchen hinter der Hecke gibt ebenfalls keinen Laut, um den armen Ritter zu wecken? Der Junge lächelt, der Alte lacht, er zieht sein Schwert und hat dem Kleinen den Garaus gemacht. Im Wald und auf der Heide, da steht eine alte Weide.
Zweiter Teil - DER SPIELMANN
Nachtigall und Rotkehlchen haben sich verzogen und Dohlen und Raben Platz gemacht. Unter Laub und heruntergefallenen Blättern liegt ein blonder Rittersmann begraben, so erzählt es der Dichter. Eines Tages kommt ein Spielmann des Weges, der einen Knochen hervorlugen sieht. Wühlmäuse haben ihn nach oben befördert. Kriminalistischer Spürsinn liegt dem Wanderer fern. Er hebt das Gelenkstück auf, um später eine Flöte daraus zu schnitzen. O Spielmann, lieber Spielmann mein, wird das ein seltsam’ Spielen sein!
Traurig und schön klingt die Melodie, zunächst nur instrumental, doch dann wird es verbal. Das Lied berichtet von dem Kriminalfall, der sich einst zugetragen hat. Den jungen Leib haben die Ameisen aufgezehrt und das Skelett übriggelassen. Vorzeitig musste der wonnige Jüngling sein Leben lassen, weil der Bruder ihn im Streit erschlug. Der Mörder beabsichtigte, die Königin zu freien und dazu brauchte er die Blume als Legitimation, die der Ermordete gefunden und sich an den Hut gesteckt hatte. Der Spielmann zieht durch die Welt und die Leute lauschen der spannenden Nachricht und der wundersamen Flöte. Von den paar Münzen, die seine Vorstellungen einbringen, kann der Minstrel nicht leben. Inzwischen ist der singende Knochen landesweit berühmt geworden. Könnte man mit der Wunderflöte bei Hofe nicht des Königs Gäste unterhalten, um zur Tafel zugelassen werden?
Dritter Teil - HOCHZEITSSTÜCK
Im Schloss hoch auf dem Felsen wird gefeiert. Pauken und Trompeten sorgen für Stimmung. Die Ritter sitzen vor ihren Bierkrügen, die Damen tragen kostbare Garderobe und prunken mit edlem Geschmeide. Was bedeutet der fröhliche Schall und weshalb leuchtet der Königssaal so festlich? Die Königin hält Hochzeit mit dem Rittersmann, der ihren Stolz gebrochen und ihr die gewünschte Blume gebracht hat. Der König kann sich nicht so recht ergötzen und nimmt die geladenen Gäste nur oberflächlich wahr. Selbst die Königin kann dem Prinzgemahl kein Lächeln abgewinnen. Warum ist er so bleich und stumm? Was geht ihm nur im Kopf herum? Vielleicht kann der Spielmann, der zur Tür hereinkommt, ihn aufheitern. Nach einem melodischen Präludium singt der Knochen seine gewohnte Schauerballade, die den Gästen das Blut in den Adern gefrieren lässt. Der König versucht in frechem Hohn, die Situation herunterzuspielen und setzt nun selbst die Flöte an die Lippen. Der Knochen beschwert sich: „Ach Bruder, liebster Bruder mein, du hast mich doch selbst erschlagen. Jetzt spielst du auf dem Totenbein, darüber muss ich klagen.“ Es ist schon erstaunlich, dass der ausgebleichte Körperbestandteil sich an keinen abgespeichert Text hält, sondern in der Lage ist, nach eigenem Ermessen eine Variation vorzutragen. So weit ist die Technik von heute mit ihren Tonabspielgeräten noch nicht. Die Gäste sind völlig verstört, und wer schreckhaft veranlagt ist, flieht aus der Burg. Die Königin liegt malerisch hingestreckt auf dem Parkett und am kalten Büffet bedienen sich die Raben.
Anmerkung:
In der Vorgabe zum Libretto ist es ein Geschwisterpaar, welches um den Besitz der Blume streitet, weil davon die Thronfolge abhängt. Der Bruder erschlägt die Schwester, welche die Blume gefunden hat, im Schlaf und setzt sich in ihren Besitz. Ein Bauer findet die Verscharrte unter einem Blätterhaufen. Aus dem Gebein sucht er sich das passende Stück heraus und schnitzt aus dem Material eine Flöte. Zu seinem Erstaunen erklingt eine Kinderstimme aus dem Instrument, die das an ihr begangene Verbrechen ausplaudert. Bei ‚Grimms Märchen’ streiten sich zwei Brüder um die Gunst einer Frau. Die Knochenflöte wird dem Brudermörder zum Verhängnis.
Mahler hat sein Frühwerk sehr geliebt und Zeit seines Lebens an der Partitur gebastelt. Er ging sogar soweit, den ersten Teil aus dramaturgischen Erwägungen wegzustreichen und separat aufführen zu lassen. Gedacht war die Kantate ursprünglich als Eingabe für einen Wettbewerb. Die Jury war prominent besetzt, unter ihnen Karl Goldmark. Von Mahler als persönliche Kränkung wahrgenommen, erhielt den Beethoven-Preis ein gewisser Robert Fuchs, dessen Bruder der Jury angehörte.
Die Uraufführung der zweiteiligen Fassung dirigierte Mahler selbst am 17. Februar 1901 in Wien. In England erklang diese Version 1956 in der Royal Festival Hall unter Walter Goehr, der erst im Jahre 1970 unter Pierre Boulez die vollständige Fassung folgte. Das Waldmärchen wurde 1934 erstmalig von Radio Brünn gespielt. Die Musikwelt sieht es tragisch, wenn es einem Komponisten nicht vergönnt ist, sein Werk, an dem er besonders hängt, noch zu Lebzeiten aufgeführt zu sehen.
Das Klagende Lied steht in der Beliebtheit hinter später komponierten Orchester-Liedern zurück.
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musirony 2008 - Engelbert Hellen