OPERETTENZAUBER
Oskar Nedbal [1874-1930]
Polenblut
Operette in drei Bildern
Libretto von Leo Stein
nach einer Erzählung von Alexander Puschkin
Uraufführung
am 25. Oktober 1913 im Carl-Theater, Wien
Personen:
Graf Boleslaw Baranski, ein Gutsbesitzer
Helena, seine Wirtschafterin
Jan Zaremba, Vater Helenas
Wanda Kwasinskaja, Primaballerina
Bronio von Popiel, Freund des Grafen
Jadwiga Pawlowa, Mutter Wandas
weitere: von Mirski, von Gurski, von Wolenski, von Szenowiczund viele Sprechrollen
Das Geschehen spielt um 1860 in Warschau und auf einem gräflichen Gut.
HANDLUNG
Erster Akt: AUF DEM POLENBALL
Wenn Bolo – so wird Boleslaw von seinen Freunden genannt – mit seinem verschwenderischen Lebensstil so weitermacht, wird es noch einmal ein schlimmes Ende mit ihm nehmen. Eine tugendhafte und vor allem tüchtige Gattin könnte dem Ruin noch vorbeugen, aber alle gut gemeinten Ermahnungen schlägt der Unbelehrbare in den Wind. Durchlaucht will frei sein und vergnügt leben – eine eheliche Verbindung kommt für Bolo nicht Betracht, allenfalls mit Wanda. Doch wenn das Vermögen sich nicht mehrt und statt dessen immer weniger wird, ist der Ruin nicht mehr aufzuhalten. Eine reiche Heirat wäre die Rettung. Helena, die Tochter des vermögenden Gutsbesitzers Zaremba, wäre eventuell geneigt, sich seiner liebevoll anzunehmen. Doch was die Schönheit anbelangt, kann sie ihrer Namenscousine aus dem antiken Troja das Wasser nicht reichen, und deshalb wird sie von Bolo erst gar nicht in Betracht gezogen, so sehr sein Freund Bronio sich auch bemüht.
Seine Gedanken und Gelüste sind bei Wanda, der schönen Ballerina. Deren Mutter Jadwiga sähe es gern, wenn die Tochter in den Hochadel einheiraten würde, damit sich zum künstlerischen Ruhm blaues Blut gesellt. Jedoch sind Hochadel und Geldadel nicht das gleiche und Bolo traut sich nicht, der raffgierigen Alten den Unterschied klar zu machen, obwohl Wanda absolut sein Fall wäre.
Zweiter Akt: DIE WIRTSCHAFTERIN
Die Verschmähte hat aber auch ihren Stolz, lässt sich nicht zurückweisen und überlegt, wie sie sich den Grafen zutraulich machen kann. Mit Bronio schließt Helena sich zusammen und beide überlegen einen Schlachtplan. Der Genannte hat Information, dass Bolos Haushälterin ihren Dienst quittiert hat, denn seine Unregelmäßigkeiten fand sie allmählich unerträglich.
Jetzt bekommt der Herr Graf auch noch Druck! Während er mit seinen Freunden beim Kartenspiel sitzt, kommt der Gerichtsvollzier ins Haus und lässt die schönen Möbel aus dem Salon auf den Leiterwagen laden. Hauptgläubiger ist Jan Zaremba, der Vater Helenas. Den Ernst der Lage hat Bolo immer noch nicht erkannt und träumt weiterhin von der wendigen Wanda.
Bronio lässt seinen Freund nicht im Stich und schmuggelt Helena bei ihm ein. Unter dem falschen Namen Marynia macht sie anlässlich ihres Bewerbungsgespräches einen guten Eindruck. Für die Notwendigkeiten des Alltags bekommt der Widerspenstige allmählich einen Blick und akzeptiert auch Konditionen, die seinem Verstand zuwiderlaufen.
Den Fuß hat Marynia zwischen die Tür bekommen und nach ein paar Wochen hält sie das Heft in der Hand. Zwischen Unbehagen und Wohlgefallen pendelt Durchlaucht hin und her, muss aber zugeben, dass sein geschrumpfter Geldhaufen sich wieder aufgerichtet hat. Nach den Vorstellungen des Komponisten ist weibliches Polenblut so beschaffen, dass es herrschen will – dem Herrn Grafen geht es an die persönliche Freiheit. Die neue Herrin schwingt das Zepter und bestimmt, mit wem ihr Gebieter zu Hause verkehren darf. Sie hat die schmarotzenden Freunde davongejagt und seinen Whisky versteckt, denn Alkohol schadet der Gesundheit. So schnell verliert Bolo den Humor nicht, denn er sieht auch die guten Seiten der neuen Wirtschafterin und bewundert die positiven wirtschaftlichen Resultate, die sie erzielt. In seinem Herzen regen sich ungeahnte Empfindungen und er kann das kleine 'Bauernmädchen' nur bewundern.
Dritter Akt: GOLDENE ÄHREN
Der Sommer ist vorbei, die reichhaltige Ernte eingefahren und jetzt kann Erntedank gefeiert werden. Der Wohlstand ist auf dem gräflichen Gut eingekehrt und Bolo hat nicht vergessen, wem er seine Rettung aus dem wirtschaftlichen Niedergang zu verdanken hat. Auf der Tenne werden Polka und Krakowiak getanzt. Marynia bekommt vom Hausherrn die Erntekrone, geflochten aus Kornblume, Ackerwinde Sonnenblume und Getreide, auf das stolz erhobene Haupt gedrückt. Das Pferd, welches den Hafer verdient, soll ihn auch bekommen! Der neuen Königin seines Herzens schenkt Bolo seine Liebe und singt das Lied: „Mädel, dich hat mir die Glücksfee gebracht.“ Als Belohnung darf er in Zukunft an der langen Leine laufen, der Groll Helenas hat sich verflüchtigt, denn sein Wesen hat sich gewandelt.
Noch weiß er nicht, wer das schlichte Landmädchen in Wirklichkeit ist. Für Aufklärung sorgt Wanda. Diese kann ihren Ärger nicht unterdrücken, weil sie wegen einer kleinen Bäuerin das Feld räumen soll. Nachdem Bolo nun auch noch kundtut, dass er seine Wirtschafterin heiraten wird, verliert Wanda die Fassung völlig. Doch noch ist Polen nicht verloren, Bronio ist geneigt, über den Weg der Eheschließung seinen Titel der Ballerina zu vermachen und sie darf stolz verkünden, dass sie die zukünftige Gräfin von Popiel sein wird. Das Theaterpublikum freut sich über die Lösung aller Probleme und gratuliert beiden Paaren.
Anmerkung:
In den Satelitenländern der Habsburger Monarchie steckte ein unwahrscheinliches künstlerisches Potential, welches auf dem Gebiet der Operette der Hauptstadt unvergleichlichen Glanz verlieh. Oskar Nedbal wurde in Böhmen geboren, verbeugt sich aber vor dem slawischen Nachbarland Polen. Die textile wie die musikalische Folklore an Tänzen ist in Ungarn, Böhmen und Polen besonders reichhaltig, und bietet dem Komponisten Anreiz, sich zu bedienen. Karl Millöcker behauptet in 'Der Bettelstudent', der Polin Reiz sei unerreicht. 'Polenblut' gibt ein hervorragendes Beispiel, wie eines plausible Handlung publikumswirksam zusammengestellt werden kann, die auch heute noch entspannt.
Die Wiener Operette sollte man nicht zuletzt aus historischer Sicht betrachten – in ihr wimmelt es von Fürsten und Gräfinnen, denn die Sehnsucht der niedrigen Stände war der gesellschaftliche Aufstieg. Im Leben nicht realisierbar, konnte man sich im Theater mit dem Schein zufrieden geben.
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musiroby 2009 - Engelbert Hellen