Die Figuren der Commedia dell’arte haben von ihrem allzu volkstümlichen Charakter Einiges daheim lassen müssen, denn sonst hätten sie für Österreich kein Einreisevisum bekommen. Wir finden die derben Typen im Foyer eines Ballsaales der Kaiserstadt Wien zur Karnevalszeit in bester Stimmung wieder. Feine Manieren haben sie angenommen. Man attackiert sich nicht mehr, sondern man tändelt und neckt sich. Das Vestibul ist sparsam möbliert, zwei Kanapees schmücken den Raum, ansonsten nur Spiegel und schwere Brokatvorhänge. Weil jeder sich vom Tanzen im Ballsaal einmal ein bisschen ausruhen möchte, ist Kommen und Gehen wie in einem Taubenschlag. Im Klavierzyklus von Robert Schumann führen die Persönchen ein recht isoliertes Dasein - einzeln werden sie gewürdigt. Im biedermeierlichen Wien dürfen sie Grüppchen bilden. Es bringt Bewegung und Stimmung in das Geschehen - von einer wirklichen Handlung kann nicht die Rede sein. Man tanzt Walzer, man küsst sich und man schenkt sich eine Rose. Die Damen werden verfolgt, nicht von Räubern, sondern von Verehrern, die entweder abgeblitzt werden oder man neigt sich ihnen zu. Zur rechten Tür kommen sie herein und zur linken machen sie die Biege, zuweilen auch umgekehrt.
Pierrot, der ewig Traurige, hat sich vorgenommen, nicht mehr allein zu sein, nimmt seinen spitzen Hut und will damit ein Mädchen einfangen. Ausgerechnet Papillon hat er sich ausgesucht, die natürlich - flink wie sie ist - davonflattert. Wer sind die übrigen Paare? Eusebius und Chiarinna sitzen auf dem Sofa. Florestan gesteht Estrella seine Liebe und Harlekin legt seine Herz Columbina zu Füßen. Pantalone möchte sich auch gern mit Columbina in Zweisamkeit zusammenfinden.
Harlekin fällt es am Schwersten, in vornehmer Gesellschaft feine Manieren zu produzieren. Er bindet Pierrot und Pantalone an ihren langen Ärmeln zusammen. Das ist bodenlos ungezogen.
Anmerkungen:
Es erstaunt immer wieder, wie die Großen ihrer Zeit – Choreographen, Bühnenbildner und Tänzer – aus der Fülle der Klavierliteratur etwas greifen, sich daran entzünden und ein Ballett formatieren. Komponisten von Bedeutung scheuen sich nicht im Kollektiv ein Werk, welches ihnen nicht gehört, zu instrumentieren, damit es in der Wiederverwertung Nutzen bringen kann.
Ebenso fehlt es an Themen. Selbst Ballettschöpfer der Gegenwart können sich dem Klamauk der Commedia dell’arte nicht entziehen. Wertvolle Kompositionen werden hierbei wie Rohstoff behandelt. Für einen Ballettmeister haben Komponisten offenbar nur einen schwachen Stellenwert.
Die deutsche Erstaufführung fand am 20. Mai 1910 in Berlin durch Diaghilews Balletts Russes statt. Waslaw Nijinskiy tanzte den Harlekin. Am 4. Juni 1910 folgte die Premiere in Paris.
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musirony 2007 - Engelbert Hellen