Uraufführung
am 14. April 1914 an der Opéra Paris,
Deutsche Aufführung 1921 in Berlin
Choreographie: Michail Fokine
Bühnenbild: José-Maria Sert
Kostüme: Léon Bakst
Einstudierung: Serge Diaghilews Ballets Russes
Ausführende: Léonide Massine – Maria Kusnetzowa – Alexis Bulgakow
Personen:
Potiphar, ein vermögender Regierungsbeamter
seine liebeshungrige Frau
Joseph, Hirtenknabe, gutaussehend und fromm
Eine verschleierte und zwei unverschleierte Frauen
Drei Händler mit Schmuck, Teppichen und Windhunden
Folterknechte und Sklavinnen
Ein gewappneter Erzengel
Die Aktion spielt im Alten Ägypten
Der Handlungsablauf wurde in die Renaissance verlegt.
Im Palast des reichen Potiphar herrscht Jubel, Trubel, Heiterkeit. Es wird gut und reichlich gegessen und während der Mahlzeit kann man auch einkaufen was das Herz begehrt. Das sind hauptsächlich Schmuck und Juwelen oder man lässt sich Goldstaub abwiegen. Teppiche und Textilien sind im Angebot; sogar ein Tierhändler mit Windhunden versucht ins Geschäft zu kommen. Die Frau des Potiphar langweilt sich und setzt deshalb ein hochmütiges Gesicht auf.
Drei Sänften werden hereingetragen. In jeder räkelt sich eine Frau. Die Verschleierte ist eine Heiratskandidatin. Das hat zur Folge, dass Richard Strauss an dieser Stelle einen Hochzeitstanz komponiert hat, der die Entschleierung der Braut folgt. Diese heißt Sulamith und tanzt einen Solo, in dem die Ausgehungerte ihre glühende Liebessehnsucht zum Ausdruck bringt. Aber sie hat auch Angst vor der Hochzeitsnacht, wendet sich schutzsuchend an Frau Potiphar, die sich für ihre Besorgnisse aber nicht interessiert und die Verängstigte wegschiebt.
Das festliche Programm hat soeben begonnen. Faustkämpfer mit nacktem Oberkörper treten auf und erfreuen die Gäste mit ausgesuchter Brutalität. Diese nimmt Formen an, so dass die Verbissenen durch Peitschenhiebe zur Vernunft gebracht und vom Publikum getrennt werden müssen.
Als Kontrast zum Animalischen führt man anschließend den keuschen Joseph vor. Er wird von Sklaven in einer Hängematte hereingetragen und auf den Boden gelegt. In einer Pantomime bringt der Hirtenknabe zunächst Unschuld und Naivität zum Ausdruck. Sobald er damit fertig ist, vollführt er wilde Sprünge, die er seinen Lämmern abgeguckt hat, um zu zeigen, dass durchaus auch Leben in ihm steckt. Seine Energie ist bald verpufft und der Versponnene besinnt sich auf seine Spiritualität. In der vierten Tanzfigur zelebriert er seine Vorstellung vom Gott der Vorfahren.
Das Interesse von Frau Potiphar ist erwacht, denn solche seltsam anmutende Vögel werden nicht alle Tage in einer Sänfte bei ihr abgestellt. Sie versucht hinter seine Psyche zu kommen und schmückt den Hals des Lieblings mit einer glitzernden Kette, um dann, erotisch erregt, irritiert abzudrehen.
Die Tafel wird auf Befehl Potiphars aufgehoben, obwohl der Abend erst gerade begonnen hat. Die Dämmerung bricht herein und bietet Richard Strauss die Gelegenheit, musikalisch Abendstimmung zu signalisieren. Die Gäste werden nach Hause geschickt, damit jeder überflüssige Lärm entfällt und der Komponist sich ungestört entfalten kann – ein Entgegenkommen des Hausherrn.
SZENENWECHSEL
Es verwundert den Ballettbesucher, dass Joseph zum Hausgesinde gehört und schlecht behandelt wird. Zuvor als Solotänzer gefeiert, muss er die Nachtruhe in einer Abstellkammer verbringen. Einen Schlafanzug trägt er auch nicht, sondern hüllt sich in seinen Mantel ein und legt sich zur Nachtruhe auf seine Pritsche. Er träumt von einem Engel, der ihn vor der Zudringlichkeit einer Frau beschützt, die es übel mit ihm meint.
Frau Potiphar hat für die Nacht noch keinen Lover, schleicht durch die unterirdischen Gewölbe, um zu kontrollieren, ob das Personal auch angemessen untergebracht ist. Schnell hat sie das Nachtlager Josephs ausfindig gemacht und berührt seinen Hals, an dem die schöne Kette baumelt und wartet auf Reflexe. Der verschlafene Josef denkt, es sei der gleiche Engel, der ihm im Traum erschienen ist und ihn nun necken will. Der Knabe erschrickt zu Tode, als seine Wahrnehmung ihm eine Frau signalisiert, die etwas von ihm will. Auch sie verhält sich völlig konfus. Sie spürt seine Ablehnung, lässt sich aber nicht abschütteln, denn was die Erfolgverwöhnte sich in den Kopf gesetzt hat, will sie auch bekommen. Ihre Zugriffe werden immer drängender und leidenschaftlicher, aber der sich belästigt fühlende Knabe hat nur die Flucht im Sinn. Nicht den lieben Joseph, sondern nur seinen Mantel hält sie in Händen, nachdem sie vergeblich versucht hat, den Zappelnden zu packen. Der Entwichene steht mit freiem Oberkörper vor ihr und entfacht ihre Liebesglut. Erneut startet die Erzürnte einen tätlichen Angriff und stürzt sich hasserfüllt auf das widerstrebende Opfer. Die Kampfsporterprobte versucht nun, ihn zu würgen, damit er endlich gefügig wird. Seine volle Körperkraft muss Joseph zum Einsatz bringen, um den Angriff auf seine Keuschheit abzuwehren, denn es ist sein Ehrgeiz als „Der keusche Joseph“ in die Geschichte der Menschheit einzugehen. In dieser Eigenschaft wird Leo Fall in seiner Operette „Madame Pompadour“ im Jahre 1923 ihn in Wien vorstellen. („Ach Josef, ach Josef, warum bist du so keusch. Das küssen macht so gut wie kein Geräusch.“) Es ist also völlig falsch, zu glauben, dass der Hirtenknabe auf erotische Abenteuer deshalb verzichtet, weil der Gott seiner Väter das von ihm erwartet. Über seine Körperfunktionen möchte er frei entscheiden und sich nicht als Sexsklave ausbeuten lassen.
Vom Tumult wird die Dienerschaft angelockt. Um das Gesicht zu wahren und ihre Enttäuschung zu verarbeiten, beschuldigt die Gedemütigte den Spinner der versuchten Vergewaltigung. Ihre Emotionen schlagen so hoch, dass sie ohnmächtig in die Arme ihrer Lieblingssklavin sinkt. Diese gebärdet sich hysterisch, als ob ihr selbst eine Schmach zugeführt worden sei. Die Dienerschaft bringt ihre Empörung durch einen orgiastischen Tanz zum Ausdruck. Inzwischen hat auch Potiphar mitbekommen, dass in den Kellerräumen seines Hauses ein Ringkampf stattgefunden hat.
Joseph wird in Ketten gelegt. Die Verschmähte hat sich im Kopf eine Anklage ausgedacht und die Vorbereitungen für den Strafvollzug werden getroffen. Die Folterwerkzeuge mit dem Feuerbecken sind herangeschafft, aber Joseph bewahrt bewunderungswürdige Selbstbeherrschung und schaut den Aktivitäten gelassen zu. Potiphars Frau wird mit dem Problem, ihre widersprüchlichen Empfindungen zu sortieren, nicht fertig.
Zu allem Überfluss erscheint auch noch ein goldgewappneter Engel von stattlicher Größe, befreit den Gefesselten von seinen Ketten und bringt den widerspenstigen Lover aus der Gefahrenzone. Die Entführung des Objektes ihrer Begierde durch ein himmlisches Wesen ist Frau Potiphar zuviel und sie erwürgt sich mit ihren Perlenschnüren. Die Dienerschaft schaut gelassen zu und ist nicht geneigt, den Bemühungen der Bedauernswerten Einhalt zu gebieten. Unterlassene Hilfeleistung könnte man das Verhalten des pflichtvergessenen Personals nennen! Die Klageweiber treten in Aktion.
Joseph ist seinen Quälgeist los und schaut mit seinem neuen Kumpel einer hellen Zukunft entgegen.
Anmerkungen:
Obwohl das Libretto sich vorzüglich zum Glossieren eignet, bietet es den Tänzern in der Darstellung von Bewegung und Emotion reichhaltige Möglichkeit der Entfaltung. Die oftmals orgiastische Musik der „Josephslegende“ verdient es nicht, gegenüber den Symphonischen Dichtungen nachrangig behandelt zu werden. Die Handschrift des Komponisten ist unverkennbar und sichert dem Ballett das Überleben.
In den Bildern wird nicht das Alte Ägypten vorgeführt, sondern man hält sich an Darstellungen auf venezianischen Gemälden des Malers Veronese.
Es kam zwischen Librettist und Komponist fortwährend zu Spannungen, weil Richard Strauss in seiner Komposition die Nähe zur „Salome“ und „Elektra“ vermeiden wollte, während Hofmannsthal diese suchte. Der Komponist setzt sich durch. Der satte jubilierende Klang der Streicher steht dem Rosenkavalier näher, als seinen beiden bizarren Vorgängern.
Die Uraufführung profitierte von dem 19 jährigen Tänzer Léonide Massine, der für den legendären Nijinsky eingesprungen war, während Maria Kusnetzowa als Frau des Potiphar mimisch nicht restlos überzeugen konnte.
Die überwältige Inszenierung von John Neumeier erzählt die Legende vom arg bedrängten Joseph ganz anders
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musirony 2006 - Engelbert Hellen