HANDLUNG
Anna ist schizophren und bildet sich ein, in einer Person doppelt zu existieren. Beide führen angespannte Dialoge miteinander. Trotz aller Rivalität haben beide ein gemeinsames Ziel. Der Familie soll es gut gehen und deshalb reist die Zweifaltigkeit durch die Vereinigten Staaten, um Geld zu verdienen. Ihr Ziel, dem sie entgegenfiebern, ist der Kauf eines kleinen Hauses in Louisiana. Der Weg ist dornenreich, Schandtat und Sünde lassen sich weder auseinanderhalten, noch vermeiden. Der habgierigen Familie geht es nicht schnell genug und die vier zu Hause beklagen Annas Faulheit.
Dem Zuschauer muss erklärt werden, wie die Doppelexistenz von Anna I und Anna II bühnentechnisch zelebriert wird. Es gibt eine singende und eine tanzende Anna; die Attribute einer Person sind auf zwei Darsteller verteilt. Die akustischen Informationen von Anna I und Anna 2 kommen als Dialog aus einem Mund. Anna ist also doppelzüngig.
Die Sünden, welche von der Protagonistin begangen werden müssen, um endlich ans Häuschen zu gelangen, sind:
FAULHEIT – STOLZ – ZORN – VÖLLEREI – UNZUCHT – HABSUCHT – NEID
Die Belegung mit dem kirchlichen Begriff der Todsünde, begangen in sieben unterschiedlichen Städten der Vereinigten Staaten, leuchtet nicht immer ein. Man kann die Verfehlungen nicht einmal als schwerwiegend bezeichnen.
Erste Sünde:
Anna I fotografiert Anna II, wie diese im Park Männer in pikante Situationen bringt, um für die Fotos Geld zu kassieren. Anna II ist der Sache schnell überdrüssig und schläft auf der Parkbank ein. Gerügt wird die Müdigkeit, nicht die Nötigung.
Zweite Sünde:
Die leichtfertige Anna II tanzt in einem Kabarett in Memphis und wird von der nörgelnden Anna I fertiggemacht, die ihre Darbietung als Kunst nicht anerkennen will und ebenso wie das Publikum, langweilig findet. Für frivole Einlagen ist Anna II jedoch nicht zu haben, weil sie dafür zu stolz ist.
Dritte Sünde:
Anna II arbeitet als Statistin in Los Angeles beim Film und regt sich auf, weil ein Pferd misshandelt wird. Sie begibt sich mit ihrer Aufgeregtheit in Opposition zu Anna I, welche die Ansicht vertritt, dass man seinem Chef gehorchen sollte und ihre Empörung unangebracht sei.
Vierte Sünde:
In Philadelphia arbeitet Anna II in einem Kabarett als Akrobatin. Eine schlanke Figur ist erforderlich und Anna I meint, sie muss die Essgewohnheiten von Anna II kontrollieren und nimmt ihr die Süßigkeiten weg.
Fünfte Sünde:
Anna II hat sich in Boston einen noblen Herrn gesucht, der für gewährte Gunst bezahlen muss. Der Sinn steht ihr aber in Wirklichkeit nach einem jungen Mann, in den sie verliebt ist. Anna I meint, dass sie auf persönliche Gefühle verzichten soll, denn es zähle nur das Geld, welches man mit der Liebe verdiene, selbst wenn die Handlungsweise unmoralisch ist.
Sechste Sünde:
Anna I passt auf, dass Anna II in Baltimore nicht unnötig Geld ausgibt. Fürs Häuschen soll alles auf den Haufen gelegt werden. Ihre Raffgier nimmt Formen an.
Siebte Sünde:
In San Franzisko beneidet Anna II die hübsch und gutaussehenden jungen Menschen. Prinzipiell widerspricht Anna I und urteilt, dass Schönheit vergänglich sei. Sie soll doch einmal in den Spiegel schauen.
Nach sieben Jahren ist das Geld für das Haus in Louisiana zusammen und die verlogene Familie ist zufrieden. Ihr ist es völlig egal, wenn die Moral der Tochter und Schwester zeitweise auf der Strecke geblieben ist.
Anmerkungen:
In überstürzter Flucht vor dem Regime hat sich Kurt Weill im Jahre 1933 nach Paris begeben und genoss dort die Protektion der Prinzessin de Polignac und der Vicomtesse de Noailles. Die Ballettmusik über die sieben Todsünden war die letzte Gemeinschaftsarbeit mit Bert Brecht im Stil des Berliner Theaters. Der Erfolg der Uraufführung war wider Erwarten mäßig. Serge Lifar beurteilte das Stück abfällig. Dem Rhythmus der Sprache, dem Spott, der beißenden Satire waren die Menschen offenbar nicht geneigt, sich zu stellen. Alles schien ein bisschen zu „entartet“, um daran Gefallen finden zu können.
In heutiger Zeit haben sich Sängerinnen wie Brigitte Fassbaender und Julia Migenes des Balletts mit Gesang angenommen und ihm jenseits aller traditioneller Strukturen den ehrenvollen Platz zugewiesen, den es verdient. Die Partie der Mutter wird „en travesti“ von einem Bass gesungen.
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musirony 2006 - Engelbert Hellen