Schöne Oper - selten gehört
Georg-Friedrich-Kersting:
Paar am Fenster
Frederick Delius [1862-1934]
Fennimore and Gerda
Oper in elf Bildern
in der Urfassung deutsch gesungen
englische Version von Philip Heseltine
op.11, fertigestellt 1910
Libretto vom Komponisten
zwei Episoden aus dem Leben von Niels Lyhne
nach der Novelle von Jens Peter Jacobsen
Uraufführung am 21. Oktober 1919 im Opernhaus Frankfurt am Main
Dauer ca. 75min
Charaktere:
Fennimore, Tochter aus gutem Hause - (Sopran oder Mezzosopran)
Niels Lyhne, ein Dichter - (Bariton)
Erik Reefstrup, ein Maler - (Tenor)
Gerda, Skinnerups älteste Tochter (Sopran)
Konsul Skinnerup, Lyhnes neuer Nachbar (Bass)
Vater und Mutter Claudi, Fennimores Eltern
Ingrid, Lila und Marit, Gerdas kleine Schwestern
Stimme über dem Wasser
Ein Lehrer, ein Distiller, ein Stadtrat, Ein Sportsmann und Eriks Kneipenbrüder
Ein Dienstmädchen, eine Botin
Ort der Handlung: Dänemark in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts
INHALTSANGABE
Fennimore sitzt im Haus ihrer Eltern am Fenster, verrichtet Handarbeiten und wird dabei von Niels beobachtet. Als Fennimore erwähnt, dass sie sich nach weiten Reisen sehnt, entgegnet Niels, dass einem dabei nur das Heimweh ereile. Er will sie gerade zu einem Kuss an sich ziehen, da kommt sein Vetter Erik. Fennimore erschrickt, setzt sich wieder aufrecht hin und begrüßt ihren Mann. Er fordert sie auf, ihre Laute zu holen und etwas Musik zu machen. Fennimores Eltern kommen ebenfalls ins Haus, da es anfängt zu regnen. Fennimore singt ein Lied für alle.
Erik und Fennimore sitzen in einem Boot auf dem See unmittelbar am Haus der der Eltern. Niels paddelt die beiden Senioren und einige Freunde zu dem anderen Boot. Als Niels aussteigt, bestätigen sich Fennimore und Erik heißblütig ihre Liebe. Als sie zusammen zum Hauseingang gehen, sieht Niels „seiner“ Fennimore und seinem Freund verzweiflungsvoll nach.
Drei Jahre sind vergangen und das Paar lebt mittlerweile in Mariagerfjord in einem Eigenheim am Wasser. Beide haben sich stark verändert. Erik ist Maler aus Berufung, aber durch die Abgeschiedenheit seiner Umgebung inspirationslos. Niels kommt, um beide zu besuchen und plant einige Zeit bei dem Paar zu wohnen. Fennimore bittet ihn inständig seinem Verwandten zu beflügeln, wieder zu malen und seine Kneipentouren etwas zu reduzieren. Auch Fennimore gesteht, dass sie unglücklich ist. Erik bringt Zigarren und Whisky auf die Veranda, und während sich Fennimore ins Haus zurückzieht, stoßen beide auf ihr Wiedersehen an.
Später am Abend berichtet Niels, dass er Schriftsteller geworden sei und an einem Roman arbeite. Erik fragt, ob er je an den Tod gedacht habe und es stellt sich heraus, dass er starke Depressionen hat. Seine Unfähigkeit zu arbeiten, seine Lethargie, das Gefühl die Zeit zu verlieren und sein Alkoholkonsum zeugen davon. Niels schlägt vor, zu reisen - vielen berühmten Malern hätte dies schon Inspiration verschafft. Erik sehnt sich nach einem Ortswechsel, fürchtet aber insgeheim seine Bedeutungslosigkeit als Künstler zu erkennen und daran zu Grunde zu gehen.
Erik macht einen neuen Versuch zu malen, doch schließlich wirft er verzweifelt die Palette zu Boden. Seine Kneipenbrüder kommen über die Veranda hereingestiefelt und überreden Erik mit nach Aalborg zum Markt zu kommen. Es gäbe Schauspieler und auch viele attraktive Frauen. Fennimore hat verständlicherweise etwas gegen den Ausflug und versucht, ihren Mann zurückzuhalten. Sie bittet ihn inständig, wenigstens einmal bei ihr zu bleiben. Erik reißt sich los und zieht mit seinen Kneipenbrüdern ab.
Fennimore sieht ihm traurig nach und Niels tröstet sie mit Geschichten aus deren Kindheit. Sie beteuern sich ihre gegenseitige Freundschaft und halten sich fest an den Händen.
Fennimore sitzt im Lehnstuhl und wartet spätabends auf die Heimkehr ihres Mannes. Als dieser sturzbetrunken ins Haus kommt, fragt er sie schroff, wieso sie nicht im Bett sei. Als sie sagt, dass sie auf ihn gewartet habe, entgegnet er barsch „Unsinn“, wirft sich aufs Sofa und schläft ein.
An einem schönen Herbsttag gehen Fennimore und Niels durch den Wald. Sie entdecken ein verlassenes Vogelnest und als sich beide darüber beugen, küsst Niels Fennimore leidenschaftlich. Überschwänglich gestehen sie sich ihre Liebe, die schon immer bestand. Beide glauben, ohne einander nicht leben zu können und Fennimore blickt traurig auf ihr in Ereignislosigkeit abspulendes Leben. Niels tröstet sie und sie lassen sich gemeinsam ins Moos fallen.
Es ist Winter, Fennimore sitzt am Klavier und horcht nach Schlittschuhgeräuschen in unbestimmter Erwartung von Niels' Besuch. Erik ist wieder mit seinen Saufkumpanen in Aalborg. Eine Botin bringt eine Depesche, aus der Fennimore erfährt, dass Erik vom Wagen gefallen sei und tödlich verletzt wurde. Sie gibt sich die Schuld an Eriks Tod und schämt sich, dass sie ihn hintergangen hat. Verwirrt beschließt sie, Niels nicht mehr sehen zu wollen.
Auf der Eisfläche des Fjords läuft sie jedoch auf Niels zu, vergisst, was sie sich vorgenommen hat, und berichtet ihm von dem grauenvollen Unfall. Sie macht ihm Vorwürfe und artikuliert ihren Hass gegen ihn. Der Beschuldigte ist sich keines Unrechts bewusst und versucht vergeblich, sie zu beruhigen. Doch die Verströrte weist ihn zurück und legt ihm nahe, sie nicht mehr zu besuchen. Als beide sich trennen, erkennt man im fernen Schneegestöber vier dunkle Personen, die Eriks Leichnam tragen. Fennimore erschrickt bei deren Anblick, stürzt dann die Verandastufen herauf, und bricht im Schnee zusammen.
Die Zeit ist vergangen, die Szenerie hat gewechselt und alte Gefühle sind erkaltet. Niels hat eine neue Existenz auf Hof Lönborggaard gegründet. Er bedauert zwar den Verlust seines Dichterrufs und seiner Liebe doch blickt er froh und hoffnungsvoll auf das goldene Korn und sein neues Leben als erfolgreicher Großbauer.
Im Hause des Nachbarn, des Kanzleirat Skinnerup, wird Niels von einem Dienstmädchen gebeten, sich zu setzen und ein bisschen zu verweilen. Lila, Marit und Ingrid, die Töchter Skinnerups wollen mit Gerda spielen, die aber nur von Niels träumt und deshalb von den Schwestern aufgezogen wird. Als Gerda sich vom Spiel ausklinkt und den Besucher begrüßt, schenkt dieser Ihr ein Buch aus dessen Seiten ein herbarisiertes Efeublatt fällt, welches Niels auf einer Italienreise vom Grab der großen Liebenden von Verona mitnahm.
Als er das Blatt Gerda überreicht, entgleitet ihm eine Liebeserklärung. Ehe die neue Flamme sich versieht, wird der Heiratsantrag noch nachgeschoben. Gerda stimmt freudig zu und gemeinsam erhalten sie den Segen von Vater Skinnerup, der die Romanze schon seit langem ahnte. Der Jubel von Gerdas Schwestern beschließt die Oper.
Bemerkung:
Fennimore und Gerda wartet mit einer sehr raschen Szenenfolge - ähnlich zu Janáčeks „Káta Kabanováč“, Bergs „Wozzek“ und Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ - auf, wodurch die Charaktere aus verschiedenen Blickwinkeln präzise beleuchtet werden. Das im Grunde hervorragende, realistische und lebensnahe Libretto scheitert leider am Ende in einem zu harten Handlungsverlauf. Während Fennimore in fast jeder vorangehenden Szene auftritt, spielt die zweite Titelfigur nur im letzten Bild eine Rolle. Der Titel der Oper sollte also eigentlich „Niels Lyhne“, ähnlich der Romanvorlage lauten.
Die eigentliche Kern- und Identifikationsfigur ist Fennimore, die zwischen zwei Männern hin- und hergerissen ist und am ende ein leben in einsamer Depression verbringt.
Abgesehen von den textlichen Schnitzern wartet Delius Musik mit bestem spätromantischem Kolorit auf, wobei er, trotz der kurzen Spieldauer der Musik viel Zeit zur Entwicklung gibt. Die Oper kann zurecht als „symphonisch“ bezeichnet werden, da die Instrumentalen Passagen die Gefühle der handelnden Charaktere aufs beste unterstreichen.
Schon 1910 beendet, konnte die Partitur aufgrund des ersten Weltkrieges erst 1919 in Frankfurt/M. zur Uraufführung gebracht werden. Es sollte Delius' letzte Oper sein.
© 2011 – Raphael Lübbers