Schöne Oper - kaum bekannt
Rued Langgaard [1893-1952]
Antichrist
Oper in zwei Akten, sechs Bildern,
einem Prolog und einem Epilog
Libretto vom Komponisten
in Anlehnung an pseudo-biblische Glaubensvorstellungen
Entstanden 1921-23, Umarbeitung 1926-30
dänisch gesungen
Uraufführung am 2. Mai 1999 im Titoler Landestheater Innsbruck (Erste vollständige Bearbeitung)
Charaktere:
Luzifer
Rätselstimmung
Echo der Rätselstimmung
Das Maul, das große Worte spricht
Missmut
Die große Hure
Das Tier in Scharlach
Die Lüge
Mystische Stimme
Stimme Gottes (gesprochen)
Die Menschheit (Chor)
Das Geschehen spielt jenseits von Raum und Zeit
HANDLUNG
Prolog
Luzifer beschwört den Antichristen, lässt ihn aus der Tiefe emposteigen und verleiht ihm irdische Existenzfähigkeit. Er charakterisiert den "finsteren Christus" anhand von fünf Christus-Gegensätzen. (Diese entsprechen den Themen der ersten fünf Bilder der Oper): Das Lamm - Irrlicht, die Wahrheit - Hoffart, der Gekreuzigte - Missmut, Der Auferstandene - Begierde, der Offenbarte - Streit
Gott duldet die Anwesenheit des Antichristen zeitweilig und verkündet: "Mein Wille allein geschehe Antichrist! Werde eine Zeit lang offenbar!"
Erster Akt:
1
Die Rätselstimme und dessen Echo bilden im ersten Bild eine Einleitung, in welcher der Zeitgeist nach Erscheinen des Antichristen symbolisch dargestellt wird. Es kommt eine in Unsicherheit verklärte lebensmüde Geisteshaltung zum Ausdruck, die auf ein besseres "Morgen" hofft.
2
Das zweite Bild trägt den Titel "Hoffart" bzw. "Größe". "Das Maul, das große Worte spricht" entlädt einen ganzen Schwall von Schlagwörtern des modernen Lebensstils (z.B. Kampf bereitet den Sieg..., Wille hier - Wille dort..., Kraft besiegt Kraft, Schnöder Mammon lächelt uns zu und adelt unseren Sklavensinn. Die Oberflächlichkeit des materialistischen Strebens der modernen Gesellschaft wird offengelegt.
3
Im letzten Bild des ersten Akts "Hoffnungslosigkeit" schildert der personifizierte Missmut nochmals den zeittypischen Lebensüberdruss und den grasierenden Pessimismus. Es folgt eine Rückblende zum ersten Bild; gleichzeitig wird schon auf "das Tier" im vierten Bild verwiesen.
Zweiter Akt:
4
Das vierte Bild trägt den Titel "Begierde". Hier preist "Die große Hure" ihren Wein an. Er steht als Symbol für ein ausartendes genussreiches Leben. "Das Tier in Scharlach" stimmt in den frivolen Gesang ein und verehrt den "Hurenwein". Die Methoden des irdischen Genusslebens werden weiter ausgemalt und zusätzlich mit darwinistischen Gedanken wie "Es lebe der Starke" gestützt. Das "Tier" appelliert den ureigenen tierischen Trieben zu folgen, um so zur kompletten irdischen Befriedigung zu gelangen. Die Menschheit stellt die Thesen zunächst in Frage, wird dann jedoch vollends vom Tier verführt! "Amen".
5
Im Streit "Aller gegen alle" kommt es zur Auseinandersetzung der "großen Hure" mit der "Lüge". Neben dem vierten Bild ist es der einzig wirkliche Dialog der Oper. Beide behaupten von sich, Macht zu besitzen und die einzige Wahrheit zu vertreten. "Die Hure" fühlt sich als Königin, wobei ihr Lügen nur Mittel zum Genuss sind. "Die Lüge" sieht sich hingegen als Beherrscher der "Großen Hure." Der Hass kommt hinzu und versucht zu vermitteln - vergebens!
Das jüngste Gericht steht bevor. "Die Lüge" begreift, den Ernst der Lage, während die Hure alles nur für ein ihr zu Ehren veranstaltetes Spektakel hält.
6
Im letzten Bild, "Verdammnis" betitelt, verflucht die mystische Stimme den Antichristen und dessen Attribute. Die Lebenden und die Toten werden gerichtet. Gott endsendet dem Antichristen den "Ew'gen Blitz" und löscht damit seine Existenz aus.
Epilog:
Der Final-Chor subsummiert die Moral der Oper: Nur wenn Gottes Funke wie ein Blitz in den Verstand einschlägt und diesen durchdringt, kann es leuchten über den Tälern. Der Fluss des Lebens erquickt unseren Geist, und ungehindert kann die Zunge von der Himmelslust erzählen.
Anmerkungen:
Rued Langgaard dürfte wohl als eine der skurrilsten und originellsten Musiker-Persönlichkeiten des 20.Jahrhunderts gelten. Seine Werke wurden bereits von Zeitgenossen mit Unverständnis aufgenommen und auch den heutigen Hörer weiß Langgaard mit seiner oft abstrakten Denkweise zu fordern und zu strapazieren.
Die Oper „Antichrist“ kann fast als exemplarisch für sein ungewöhnliches und individuelles Kunstverständnis gelten: Der vom Komponisten selbst verfasste Text folgt nicht der üblichen Opern-Dramaturgie mit einer schlüssigen Handlung sowie dialoghaltenden, definierten Charakteren, sondern zeichnet vielmehr ein abstraktes Weltgemälde in Präsenz des Antichristen.
Langgaards eigene Bezeichnung „Stimmungs-Phantasie über unsere Zeit“ zeigt bereits die äußerst kritische Haltung des Komponisten zum modernen Lebensstil. Der zunehmende Materialismus und der allgemeine moralische Verfall werden angeprangert und mit geistigen Werten kontrastiert. und konfrontiert. Die Moral der Oper lautet, dass jedes Individuum vor sich Gottes Strafgericht letztendlich stellen muss, und dass die himmlischen Genüsse den leicht zu erringenden irdischen höher einzuschätzen sind.
Eine klassische Inhaltsangabe fällt ausgesprochen schwer, da der Text - wie bereits erwähnt - keiner eindeutigen Handlung folgt. Es liegen größtenteils Monologe vor; Interaktionen zwischen den „Charakteren“ erfolgen kaum.
Als Dokument existiert ein Tonträger mit Begleitheft der "DACAPO“-Einspielung des Dänischen Nationalorchesters unter dem Dirigenten Tomas Dausgaard.
© September 2009 - Raphael Lübbers