Das Märchen von „Schneewittchen und den sieben Zwergen“ kommt in der Musikliteratur im Gegensatz zu „Dornröschen“ eher selten vor. In jüngster Zeit hat sich ein spanischer Komponist der Aufgabe unterzogen, das Schicksal der Heimatlosen, welche bei sieben kleinwüchsigen Minenarbeitern eine Bleibe findet, musikalisch zu bearbeiten.
Gegen Ableistung von Hausarbeit wie Fegen, Staubwischen, Bettenmachen und Essenkochen darf die Bedauernswerte bei den Straßenkindern wohnen, die morgens ihre Unterkunft verlassen, um in einer Silbermine zu arbeiten. Auf eine Darstellung durch Zwerge verzichtet das Szenario und lässt die Rollen der Kleinwüchsigen von Jugendlichen tanzen, die ihre Aufgabe mit Bravour erledigen. Somit kann auf angeklebte Bärte verzichtet und das Abrutschen in die Groteske vermieden werden. Das Zusammenleben gestaltet sich angenehm, denn Blancanieves hat etwas Haushaltsgeld mitgebracht, um den Lebensunterhalt frohsinnig zu gestalten. Jeden Morgen verteilt die Neue das Werkzeug, welches zur Minenarbeit benötigt wird, mit einem Abschiedsküsschen als kleine Zugabe. Der Hartnäckige bekommt sogar zwei und der Mürrische als Antrieb zum Fleiß einem Klaps auf den Po.
Der Hausfrieden hält nicht lange vor, denn die zweite Frau des verstorbenen Königs verfolgt die Stieftochter mit ihrem Hass. Sie verkleidet sich als Seniorin, um unerkannt die Flüchtige mit einem Apfel zu vergiften. Es genügt der Hochgestellten nicht, lediglich gut auszusehen, sie möchte von allen im Land auch die Schönste sein. Die Eitle besitzt einen kostbaren Zauberspiegel, den sie regelmäßig befragt, wer im Königreich am besten aussieht und bekommt nun die verheerende Information, dass es jemanden gibt, der tausendmal schöner sei, als sie selbst. Diese Auskunft macht die Hoffärtige rasend, zumal die eigene Stieftochter vom Spiegel vorgeführt wurde. Sie beschließt also, das Subjekt ihres Verdrusses aufzusuchen, um ihm den Garaus zu machen. Die Vorbereitungen hierzu sind mit Umständen verbunden.
Diener schleppen einen Badezuber herbei, in dem es dampft und zischt. Die brodelnde Suppe kann die Zauberkundige, welche hineinsteigt, ganz nach Wunsch verjüngen oder alt und hässlich machen. Die böse Königin entschließt sich für die zweite Variante, um als runzeliges altes Weib von der Stieftochter nicht erkannt zu werden. Sobald die Prozedur beendet ist, werden auch Äpfel im Badewasser chemisch behandelt. Der schöne rote Apfel ist für Blancanieves bestimmt, die anlässlich des Besuches der Alten begierig hineinbeißt, denn sie hat seit längerer Zeit keine Vitamine mehr zu sich genommen. Die Vergiftete infiziert sich sogleich, torkelt nach dem ersten Bissen und dreht sich um die eigenen Achse. Von der Hexe ins Bett gezerrt, finden die Kinder die für ewig Entschlummerte am Abend vor.
Gemäß Märchen hat nun der Prinz zu erscheinen, der Schneewittchen wieder wach küsst. Doch dieser ist den kleinen Hausbewohnern unbekannt und hinterlässt einen negativen Eindruck, denn sein Kuss ist nicht herzhaft genug, um Wiederbelebungsversuche mit Erfolg zu krönen. Die Kinder bleiben in niedergedrückter Stimmung zurück – dem Ballettbesucher geht es genau so.
Die Theatertverantwortlichen merken, dass das Märchen von Blancanieves und den sieben Enanos in dieser Form nicht ausklingen darf, wenn die Kasse stimmen soll. Man besinnt sich auf barocke Gepflogenheiten, die der Logik eines Handlungsablaufs keinen Wert beimaßen, und holt sich den Beleuchter zur Hilfe.
Ab dem vierundzwanzigsten Tableau gehen im Königspalast plötzlich die Lichter an. Im Hintergrund sind Arkaden aufgestellt, die den Ausblick auf eine Terrasse vermuten lassen. Bei einfallsreich orchestrierter Musik werden nun in Erinnerung an Marius Petipa und an seine Nachfolgern solche Variationen angesetzt und jene Pirouetten gedreht, die das Herz erheben und der Ballettbesucher nun das Vergnügen serviert bekommt, welches er von einem feierlichen Ballettabend erwartet. Die Primaballerina läuft zur Höchstform auf und der Prinz, wenn er aschon nicht küssen kann, tanzt mit angewinkeltem Bein so lange wie die Puste reicht. Die böse Königin soll den Spaß nicht verderben, denn sie bleibt außen vor. Sie darf sich erst verneigen, wenn das Stück zu Ende ist.
Anmerkung:
Die Geschichte des spanischen Balletts, selbst wenn man Latein-Amerika mit einbezieht, präsentieren sich noch bescheidener als die deutschen Bemühungen. Wenn man von den beiden Welterfolgen Manuel de Fallas einmal absieht, bietet sich auf der iberischen Halbinsel nichts Abendfüllendes an.
Mit dem jungen Komponisten Emilio Aragón erfüllte sich nun die Hoffnung des Silberstreifens am Horizont, mehr aber auch nicht. Mit dem Ballett 'Blancanieves', welches 1977 in Bilbao zur Uraufführung gelangte, wurde lediglich ein Zeichen gesetzt, denn das inkonsequent durchdachte Szenario verhindert eine umfassende Verbreitung. Die musikalische Formensprache ist brav und bewegt sich gefällig in gewohnt romantischer Manier. Mit der Choreographie verhält es sich ähnlich, die Tanzschritte bieten nichts Ungewohntes und nichts Aufregendes - verwegene Sprünge und ausgefallene Akrobatik werden vermieden. Gute Interpreten in angemessenen Kostümen können das Publikum jedoch bei Laune halten, wenn das angeklebte Finale genossen, obwohl mit Nachsicht hingenommen wird.
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musirony 2009 - Engelbert Hellen