INHALTSANGABE
Erster Akt:
Am hellen Vormittag ist James in seinem Armsessel eingeschlummert. Ist es Traum oder Wirklichkeit? Eine weiße Lichtgestalt, einem Märchen entflogen, hat sich offenbar in sein Landhaus verirrt. Liebevoll tanzt sie um ihn herum, dass es den Anschein hat, als ob das zauberhafte Wesen im weißen Tüllkleidchen und den durchschimmernden Flügeln in ihn verliebt ist. Die Situation entzückt und verwirrt ihn zugleich. Hätte die Fremde nicht ein wenig früher auf ihn aufmerksam werden können? Heute ist sein Hochzeitstag und Effy möchte er nicht verstimmen. Noch ist er nicht verheiratet, rennt dem seltsamen Wesen nach und versucht, es zu haschen, aber das Geistwesen löst sich in Luft auf.
Die Vorbereitungen für die Hochzeit laufen auf vollen Touren. Die große Halle ist schön geschmückt und die Freunde und Nachbarn kommen wie die Holzstiege herunter. Die wertvollen Hochzeitsgeschenke werden nun im Einzelnen gewürdigt. Effy schätzt sich glücklich, tanzt einen Solo und hat keine Ahnung, dass ihr Zukünftiger, wenn auch nur im Traum, überirdischen Besuch hatte.
Zwielichtig auf alle wirkt Madge, sie hat eine ungesunde grünliche Hautfarbe, versteht sich aufs Wahrsagen, und hält sich in der Nähe des Kaminfeuers auf, weil ihr ständig kalt ist. James würde sie am liebsten hinauswerfen, doch die anderen nehmen sie in Schutz und sie bettelt, bleiben zu dürfen. Ein Gläschen nach dem anderen wird ihr von Gurn aus der Whiskyflasche eingeschenkt, damit sie zugänglich wird und der Gesellschaft die Zukunft weissagt. Die Durstige lässt die Flüssigkeit die Gurgel herunterlaufen und nachdem sie sich aufgewärmt fühlt, beginnt sie, den Anwesenden die Handlinien zu deuten. Erfreuliches und Schlimmes tut sie kund. Nicht alle sind vom Glück begünstigt. Was sie James erzählt, ist nicht dazu angetan, ihn zu berücken, denn sie verkündet, dass Effy nicht ihn, sondern seinen Rivalen Gurn heiraten wird. James wird wütend und versucht erneut, die Widerstrebende an die frische Luft zu setzen.
Effi will das Brautkleid anlegen, verschwindet mit den Besuchern und lässt ihren Verlobten in Melancholie und Nachdenklichkeit zurück. Die Sylphide, die James im Traum erschien, muss deshalb nicht unbedingt ein Traumgespinst sein. Sie hat den Moment der Stille genau abgepasst und kommt durchs Fenster zurück. Wie ist es möglich? Sie umschwirrt James und produziert verliebtes Getue. Die Versuchung ist groß, dem Umworbenen wird ganz schummrig. Wie soll er ihre Anwesenheit seiner Verlobten klar machen. Er hört Schritte. Schnell nötigt er seinen unverhofften Damenbesuch sich im Lehnsessel niederzulassen und deckt ihn mit einer karierten Decke zu. Doch zu spät, Gurn hat durch den Türspalt die Anwesenheit der Fremden bemerkt, macht kehrt, um die Neuigkeit den anderen zu erzählen. Diese eilen herbei um die „weiße Dame“ in Augenschein zu nehmen. Schadenfroh zieht Gurn das karierte Laken vom Lehnsessel, doch da ist niemand mehr. Sylphiden besitzen nämlich die Fähigkeit, sich jederzeit in Luft auflösen zu können.
Hochzeitstänze sind das Prunkstück eines jeden Balletts. Gelegentlich in Grüppchen am häufigsten jedoch tanzen alle gleichzeitig. Hermann Severin hat die geeignete Schottenmusik komponiert und hält sich dabei an althergebrachte Weisen. Es wird gefiedelt, dass selbst der Kronleuchter mit der Dekoration aus Damwildgeweihen in Schwingung gerät. Nicht nur die Herren, auch die Damen tragen Röcke aus großkariertem Schottentuch in allen Variationen. Ein Augenschmaus für den Ballettfreund, ein Divertissement der ersten Güteklasse, wenn die Tänzer herumwirbeln und die Röcke fliegen!
James weiß tatsächlich nicht, für wen er sich entscheiden soll. Plötzlich ist die Sylphide wieder da. James gibt sich einen Ruck, trifft einen Entschluss und folgt der Versuchung im schneeweißen Tutu und den Libellenflügeln ins nahe Wäldchen. Eine Entführung des Bräutigams? Effi bleibt nichts anderes übrig, als verdutzt hinterher zu schauen und in Tränen auszubrechen. Ihren Brautschleier zieht sie aus dem Haar und lässt ihn zu Boden fallen. Gurn sammelt ihn ein und versteckt ihn in Gedenken der Weissagung und seinem Glück vertrauend unter seiner Weste.
Zweiter Akt:
Madge hat eine Teufelei im Sinn. Sie trifft sich nachts mit Schwestern der gleichen Fraktion in einer Höhle und gemeinsam weben sie ein netzartiges textiles Gespinst. Ein brodelnder Hexenkessel, in dem es dampft und zischt steht in der Mitte der Bühne. Das Gewirkte wird darin gebadet und so oft bewegt bis es mit dem Sud völlig durchtränkt ist. Sobald der Schleier die Substanz in ausreichendem Maß angenommen hat, ziehen die Hexen ihn aus dem brodelnden Kessel und wirbeln damit herum, damit er trocknet.
James hat inzwischen ein Vergnügen der besonderen Art entdeckt. Auf einer Waldlichtung, in bleiches Licht getaucht, haben sich viele Sylphiden eingefunden – alle Freundinnen seiner Liebsten - die nichts anderes im Sinn haben, als im Mondschein zu tanzen. Spätestens jetzt weiß der Besucher, dass die Ballettmusik von Bournonville der Stillrichtung der Romantik zuzuordnen ist. Als Solist darf James mitmischen. Hui! Hoch fliegt das Schottenröckchen, so dass die neugierigen Sylphiden erkennen können, wie es darunter aussieht.
Die Hochzeitsgesellschaft ist auf der Suche nach dem verschwundenen Bräutigam. Die Gäste schauen hinter jeden Baum, aber James ist nicht zu finden. Madge betätigt sich als Kupplerin. Gurn hat sie beschwatzt, sich Effi wieder zu nähern und auf die Verlassene redet sie ein, sich dem Rivalen des Verschwundenen zuzuwenden. James hat sich ausgetanzt und unschuldsvoll taucht er plötzlich im Kreise der anderen wieder auf. Madge hält ein Geschenk für ihn bereit. Einen hauchzarten Schleier will sie ihm geben, den er seiner Sylphide um die Schulter legen soll, damit diese, durch Zauberkraft gebannt, nie wieder entwischen kann.
Die Sylphide kennt das fürchterliche Geheimnis des Schleiers nicht und nimmt die aufmerksame Geste des Geliebten freudestrahlend entgegen. Heidelbeeren und frisches Quellwasser hat sie ihm als Gegengabe mitgebracht. Spielerisch wirft er ihr das Netz um die Schultern und zurrt es fest. Oh weh, die Flügel fallen der Sylphide vom Rücken und wilder Schmerz verzerrt ihr Gesicht. Ratlosigkeit bemächtigt sich James, denn er kann den Zusammenhang nicht herstellen. Noch ein paar Zuckungen des vergifteten Körpers und die Geliebte stirbt in seinen Armen. Die herbeieilenden Gespielinnen heben sie auf ihre Schultern und schweben mit der Toten himmelwärts.
Ein Brautzug nähert sich. Gurn und Effi haben sich die Hand fürs Leben gereicht. Madge hat sich für die zugefügten Demütigungen gerächt, droht mit ihrem Stock und triumphiert. Soweit wollte sie nicht gehen, dass ihr Opfer zu Boden sinkt und den Tod der Verzweiflung stirbt. Wird James seiner Sylphide auf einer höheren Ebene nahe sein können? Der Ballettbesucher wünscht es ihm.
Anmerkungen:
Von allen Balletten des frühen 19. Jahrhunderts gehört „La Sylphide“ zu den wenigen, die überlebt haben. Der dänischen Version ist deshalb der Vorzug zu geben, weil in dem Ballett des legenderen Choreographen August Bournonville ausschließlich die Musik des Komponisten Løvenskiold verwandt wird. Die Hochzeitstänze erinnern logischerweise an schottische Folklore, während das Finale mit tödlichem Ausgang den Streichern und der Harfe vorbehalten bleibt.
Jean Schneitzhoeffer hat das gleiche Libretto ebenfalls in Musik gesetzt. Die Ballettmeister der Gegenwart fühlen sich jedoch bemüßigt, das musikalische Volumen des unbekannten Franzosen um Einlagen aus Werken populärer romantischer und moderner Komponisten anzureichern, damit die Besucherzahl sich steigert.
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Musirony 2007 - Engelbert Hellen